Markus Wernig

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Mein erster Reindling!

Der Reindling ist ein einfacher (ich vermute bäuerlichen Ursprungs) Kuchen aus Kärnten (Südösterreich), wo ich herkomme.

Viele Jahre lang war ich in den Oster- und Sommerferien bei meinen Großeltern im Kärntner Rosental zu Besuch. Weit und breit nichts, was ein Innsbrucker Stadtkind an seine natürliche Umgebung erinnerte — Hochhäuser, von zu vielen zu schnellen Autos befahrene Straßen, deren Überquerung noch nach vielen Jahren das selbe geheime, ängstliche Gefühl auslöste wie beim ersten allein zurückgelegten Weg zur Volksschule; Warten vor ellenlangen Reihen von Klingelknöpfen, nachdem man einen gedrückt hatte, bis der Freund zum Spielen herunterkam; schließlich Fußballspiele zwei gegen zwei zwischen Wäscheleinen und gefährlich nah am Hof lauernden Fensterscheiben.

Nichts davon im Rosental. Die zwei Autos, die sich regelmäßig in die Abgeschiedenheit verfuhren (Postbote, mobiler Bäcker) kannte man mit Namen und Insassen, Häuser mit mehr als einem Stockwerk über dem Erdgeschoß schien es aus einem uralten Brauch heraus nicht zu geben, und zwischen ihnen lagen in alle Richtungen ausgedehnte Felder, Weiden und Hecken. Zum Fußballspielen hätte der Platz zwar hundertmal gereicht, doch waren die wenigen Kinder der Umgebung alle in so unterschiedlichen Altersstufen, dass die Aufstellung zweier wenigstens annähernd ausgeglichener Mannschaften unmöglich war.

Dafür gab es: Die Gärten der Großmutter. Rund ums Haus waren — in hierarchischer Abstufung nach Nutzung und Pflegeaufwand — unendlich viele verschiedene Beete, Rabatten, Einfassungen, Nutz- und Ziersträuchersetzungen usw. angelegt, in denen von Jahr zu Jahr sich eine schier unerschöpfliche Vielzahl von Blumen, Gemüsen, Beerensträuchern und anderen bunten Pflanzen tummelte. Dabei kam die praktische Veranlagung der Großmutter ganz deutlich zum Ausdruck: Direkt am Haus, ums Eck vom Sitzplatz und in den Blumenkästen an Balkon und Terrassengeländer durften sich Begonien, Narzissen, Tulpen und Rosen in ihrer farbigen Pracht ergehen. Aber schon zwei Schritte über ein Grasbord weiter — dort wo die Sonnenverhältnisse etwas besser waren — begannen die Nutzpflanzen Überhand zu gewinnen. Vor dem Haus, auf ganzer Länge, ein schmales Beet dicht bepflanzt mit Ribislstauden, die eigentlich ganz und gar nicht schön anzuschauen waren und auch eine ganze Menge stechfreudiger Insekten anlockten, so dass man im Sommer oft besser mindestens einen Meter Abstand ließ, wenn man daran vorbeigehen musste. Aber das nahm man gern in Kauf, denn dafür gab es dann am Ende des Sommers herrliche sauer-süße Ribisl (es gab weiße, rote und schwarze), die gleich eimerweise geerntet wurden. Und was nicht den Weg in die Kofferräume der zu Besuch kommenden Verwandten oder in die selbst gebackenen Kuchen und Torten fand, das kochte die Großmutter dann in (für mich riesigen) Aluminiumtöpfen mit viel Zucker zu Sirup ein. Diese Produktion war so ergiebig und der daraus sich ergebende Lagerbestand so gewaltig, dass ein Jahr nicht reichte, ihn zu tilgen. So wurden die Flaschen mit Jahrgangsetiketten versehen, und im nächsten Jahr wurden die neuen zu den alten geschichtet. Im Lauf der Zeit füllte sich der Keller, dann die Speisekammer, und auch in den Küchenschränken und im Kühlschrank fanden sich immer wieder Flaschen mit dem typischen roten Gummikappenverschluss aus verschiedenen Jahren, was — der genießerischen Ader der Familie entsprechend — immer wieder die Querverkostung verschiedener Jahrgänge gegeneinander ermöglichte. Ich erinnere mich an einen Jahrgang, der ganz ausgesprochen nach Kaffee schmeckte — der Großmutter war, wie sie nicht ohne leicht gekränkte Berufsehre eingestand — die Dose mit dem Pulverkaffee in den großen Einkochtopf gefallen (oder war es dem Großvater passiert, als er, dessen liebster Sitzplatz in der Küche war, beim Einmachen mithalf?). In diesem Jahr wurde jedenfalls wenig Ribislsaft getrunken, so dass sich dieser Jahrgang besonders gut hielt und in der Folge, wenn dann doch wieder einmal eine Flasche davon zum Ausschank kam, noch für viele Jahre für entsprechende Kommentare bei Tisch sorgte.

Ach ja, die Gärten. Hinter der Garage begann der Gemüsegarten, das eigentliche Reich der Großmutter. Vorne, zum Haus hin meist mit einer Reihe Gladiolen oder Sonnenblumen begrenzt, auf der andern, an der Grenze des Grundstücks, wieder mit einer gewaltigen Ribislhecke, wuchs darin der gesamte Gemüsebedarf der Familie für die Sommermonate. Kronfavoriten waren dabei die Zucchini, die die Großmutter in einer Sorte anbaute, die gewaltige, kiloschwere Exemplare hervorbringt. Diese tiefgrünen, in meiner Erinnerung riesengroßen, schweren und langen Früchte wurden dann zu den verschiedensten Beilagen und Suppen verarbeitet und mit den entsprechenden Kräutern aus dem Garten gewürzt. Wann immer man wollte, gab es frische Karotten und Kolrabi, man brauchte sie nur zu holen, ebenso Bohnen, Broccoli und Salat. Die Großmutter hatte stets ein Auge auf den Garten und wachte streng darüber, dass die Kinder sich achtsam in ihm bewegten und nicht versehentlich wertvolle Pflanzen beschädigten. Das Gefühl aus Stolz und Angst, etwas falsch zu machen, als mich die Großmutter zum ersten Mal einen Salatkopf holen schickte (mit einem Buttermesser bewaffnet, damit ich mich nicht verletzte), ist mir heute noch genauso gegenwärtig wie damals.

Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in buntem Arbeitskittel und Kopftuch — der Einheitstracht aller Bäuerinnen — mit der Harke gebückt im Gemüsegarten steht, die nackten Füße in heruntergetretenen, alten Schuhen ("Tscherfel" hat sie sie genannt), und ruhig und zielsicher mit dem groben Eisen zwischen den Pflanzen hackt — was ich mich nie getraut hätte, aus Angst, die Wurzeln zu verletzen.

An der Rückwand der Garage, zum Gemüsegarten hin, lag jahrelang ein langes, schmales Stück Welleternit, das wohl noch vom Hausbau übrig war, und das — ein weiterer Zug, der der ganzen Familie eigen ist — niemand wegwarf. Als ich es einmal aufhob, um zu sehen, was darunter war, erblickte ich sehr zu meinem Entsetzen die erste leibhaftige Kröte meines Lebens. Der Alarm, den ich daraufhin im Haus auslöste, führte zwar nicht zu der von mir erwarteten allgemeinen Panik, aber der grauen Eternitplatte habe ich in all den Jahren danach regelmäßige Besuche abgestattet, die nie ohne eine gewisse Ehrfurcht beim Akt der Abdeckung vor sich gingen. Lange benützte ich den Weg um die Garage nicht, weil ich fürchtete, die Kröte oder eines ihrer Jungen könnte unter der Abdeckung herausgekrochen sein und im Gras davor sitzen, wo ich sie übersehen und draufsteigen könnte. Heute noch halte ich, wenn ich bei einem meiner seltenen Besuche im Rosental den Weg hinter der Garage nehmen muss, mehr Abstand zur Wand, als es eigentlich nötig wäre.

Mit Liebe und Strenge wachte die Großmutter über alle Vorgänge im Haus — wobei mir vorkam, dass ich immer ein bisschen mehr Liebe und ein bisschen weniger Strenge erfuhr als die andern Kinder — und mit übergroßer Liebe kochte sie für uns. War sie nicht im Garten, so stand sie in der Küche und kochte, briet, buk und machte ein. Schnitzel, Schmorbraten und Salate stellte sie in unglaublichen Mengen her, und ihr offensichtliches Vergnügen, den Enkeln dann beim Essen zuzuschauen, ließ einen erst gar nicht daran denken, schon nach dem ersten Teller die Segel zu streichen. Ich bin im übrigen auch noch heute, so viele Jahre später natürlich fest davon überzeugt, nie mehr so köstliche geschmorte Schweinsschnitzel gegessen zu haben wie damals. Leider konnte ich bisher dieses Rezept nicht wieder eruieren, aber ich bin sicher, dass ich selbst heute, da ich eigentlich Vegetarier bin, einem Teller dieser Schnitzel mit Bohnen- und Kartoffelsalat nicht eine Sekunde lang widerstehen könnte.

Ein weiterer Fixpunkt in der großmütterlichen Küche war der Reindling — ein mürber, mit Rosinen und Nüssen gefüllter Strudel, der in großen Formen, Guglhupfformen, gebacken wurde. Sein Geschmack, sein Aroma ist für mich eine der intensivsten, eindeutigsten Erinnerungen an die Jahre dieser langen, ruhigen, glücklichen Ferien. Zum Glück hat meine Schwester Antonia von der Großmutter das Rezept behalten, so dass ich dieses Jahr, 2009, fast ein Vierteljahrhundert später, zu Ostern — denn der Reindling gehört zu Ostern wie die Eier und die mit Eiern, Öl und Kren gemachte Eiersoße ("Mizzale-Soße") — meinen ersten Reindling backen konnte. Hier ist nun das Rezept, und weil ich in dem Moment den Hauch der Geschichte zu spüren meinte, habe ich die einzelnen Herstellungsschritte noch fotografisch festgehalten.

Zutaten

Für den Teig:

500g Mehl
1 Würfel frische Hefe
2 Eier
1/4 l Milch
50 g Zucker (Rohrzucker, braun)
100 g Butter
Salz, Anis, Zimt

Für die Fülle:

200 g Rosinen
ca. 200 ml dunklen Rum
50 g Butter
100 g Zucker (Rohrzucker, braun)
100 g gehackte Walnüsse
Zimt

Zubereitung

Die Rosinen mindestens eine Nacht lang im Rum einweichen (sie sollten gerade mit Rum bedeckt sein — je länger, desto besser).

Etwas Milch lauwarm machen, die Hefe mit etwas Zucker und ca. 2 EL Mehl darin zerdrücken und alles kremig rühren. Diese Mischung an der Wärme stehen lassen, nach ca. 15 Min. sollte ein deutlicher Volumensgewinn sichtbar sein. Damit ist sichergestellt, dass die Hefe gut ist und gärt.

100 g Butter zerlassen, das Mehl in eine große Schüssel geben, in der Mitte eine kleine Grube machen. Zerlassene Butter, Hefemischung, Eier, Milch hineingeben und verrühren. 50 g Zucker, 1—2 Prisen Salz, Anis und Zimt (max. je ca. 1 EL) zugeben und alles zu einem Teig erst verrühren, dann kneten. Je nach Konsistenz so lange mit Mehl (wenn zu nass) oder Milch (wenn zu trocken) nachhelfen, bis sich der Teig gut von Werkzeug und Händen löst. Den Teig dann in einer zugedeckten Schüssel 1 Stunde gehen lassen — er sollte sein Volumen dabei mindestens verdoppeln.

Den Teig nochmal gut durchkneten, dann 0.5—1 cm dick ausrollen. 50 g Butter zerlassen und den Teig damit bestreichen (ein bisschen Butter übriglassen zum Ausfetten der Backform). Mit Zucker, Zimt und gehackten Walnüssen bis fast an die Ränder bestreuen. Die Rosinen aus dem Rum nehmen, leicht ausdrücken und ebenfalls auf dem Teig verteilen.

Den Teig zu einer festen Rolle einrollen (wenn die Rolle zu locker ist, gibt es nachher Hohlräume im Reindling). Eine Rein, Guglhupfform o.ä. gut mit Butter einfetten, die Teigrolle hineingeben, die beiden Enden gut ineinanderdrücken.

Das Backrohr auf ca. 170° C einschalten, den Reindling ins noch kalte Rohr geben. Wenn die Hitze erreicht ist, ca. 1 Stunde backen (die Kruste muss dunkel-goldbraun sein). Vor dem Stürzen noch mindestens 1 Stunde auskühlen lassen, sonst reißt die Kruste beim Stürzen ein.

Traditionellerweise zu Ostern mit Schinken und Eiern gegessen, mag ich ihn heute noch am liebsten so, wie ihn mir die Großmutter zum Frühstück gemacht hat: mit einer dicken Schicht Butter.

+ + +

In Kärnten gehört der Reindling zu vielen Festen, in meiner Erinnerung ist er aber untrennbar mit Ostern verbunden. Zusammen mit großen Schinken, Brot, Kren und Eiern wird er (ich glaube, am Karsamstag) in Weidenkörben zur Fleischweihe getragen. Diese findet in jedem Dorf und Dorfteil an geweihten Orten statt (Kirchen natürlich und Kapellen, so wie bei uns im Rosental, wo wir nur über eine Wiese zu gehen brauchten, die jedes Jahr prallvoll mit Himmelsschlüsseln stand, als wäre das so abgemacht, um zu der 1000 Jahre alten winzig kleinen Kirche St.Oswald zu kommen. Auf den ausgetretenen Steinstufen des angeblich im Mittelalter zu einer inzwischen verschwundenen Mönchsklause gehörigen Kirchleins werden die Körbe dann abgestellt und vom Pfarrer gesegnet. Andernorts reicht den Leuten aber auch ein Wegkreuz oder Marterl, wo sie ihre Körbe abstellen (die meisten werden übrigens mit weißen, blau-rot bestickten Deckchen zugedeckt) und bei jeder Witterung geduldig auf den an diesem Tag im Dauereinsatz stehenden Pfarrer zu warten, der von einer Weihe zur nächsten hastet. Dabei kommt es schon einmal vor, dass dieser, von der einen Gruppe noch auf ein Gläschen oder einen ausgiebigen Schwatz eingeladen, die nächste dann etwas länger warten lässt. Aber am Ende des Tages sind alle Körbe im Land geweiht, und man geht nach Hause zum Ostermahl, das dann aus den soeben geweihten Speisen besteht.


Markus Wernig

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