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Schlafen 

Gefangen die Menschen, geschlossen die Wolken, und nichts dazwischen, was den Flügeln gliche, auf denen wir durch das dichte Grau zur Sonne hätten stoßen können. 

Längst hatten die Menschen aufgehört, sich gegen den Regen zu wehren. Sie hatten gelernt, mit ihm, in ihm und durch ihn zu leben, wie man sich daran gewöhnt, eine bestimmte Straße nicht mehr zu benützen, die, wie lange eigentlich schon?, unter einem Kaufhausblock vergraben liegt. Blaß ihre Augen, wäßrig ihr Gesicht, das das Licht meidet, und irgendwo, sehr tief, wehr weit weg, das Gefühl, daß es eines anderen, eines Stärkeren bedürfte, um sie zu befreien, eines, den sie zu gut kennen, um noch von seiner Existenz zu wissen: sie selbst. 

Es mag die Zeit gewesen sein, da die Menschen nach sich selbst zu suchen begannen, nach dem, was sie eigentlich ausmachte, voneinander abhob, was sie antrieb, und dabei nichts fanden, nichts als eine enge schmerzende Höhlung, in der die Geister ihrer Kindheit Grimassen schnitten, an den Wänden eingebrannt die Zeichen ihrer ersten ewigen Spiele standen. 

Es mag sein... 

Und es mag die Zeit gewesen sein, da sich die wildesten Geschichten zutrugen, die größten Schlachten geschlagen wurden, ohne daß jemand davon Notiz nahm. 

Man sah viele, die einsam gingen, verloren gegen den alles verhüllenden Regenvorhang angingen, viele, die still an Wirtshaustischen saßen und mit verzweifelten Blicken die Tischplatte anschrien, anflehten. Welche Schlachten? Selten waren die geworden (oder waren sie es immer schon gewesen?), die, ohne sich groß um den Sumpf rundum zu scheren, ihre Lust, ihre Freude, wenn sie sie denn hatten, ausließen, ihr Flüge zum Horizont und weiter erlaubten, mit ihr über die Wolkendecke stiegen, ohne daran zu denken, daß sie wieder zurück müßten. 

Die Träume hatten sich in die muffigen Bierstuben unserer großen Stadt zurückgezogen, wo sie dann nach dem dritten oder vierten Glas zaghaft zu leuchten begannen, während die, die sie in der Nähe ihrer Köpfe mit sich herumtrugen, scheinbar von etwas ganz anderem sprachen. 

Mit einem Mal weicht der wächserne Schlaf aus den Gesichtern derer, die ihnen zuhören, ihre Züge werden heller, stumpfe Haut scheint sich zu glätten, und während einer fortfährt, von einem Garten, einem Fußballspieler, dem Regen oder seiner Nachbarin zu erzählen, richten sich die anderen in ihren zerknautschten Mänteln auf, als gälte es mehr von der Wärme eines glühenden Ofens in einem kalten Keller zu erhaschen. Eine angenehme Ruhe erfüllt sie, wo sie zerfahren und gereizt waren, während eine belebende Unruhe sie ergreift, wo seit Monaten nichts als eine bleierne tödliche Schwere in ihnen lastete. Und der erzählt, redet weiter, ohne zu wissen, warum ihm gerade jetzt die Worte so leicht vom Mund gehen, sich so ineinander geben, warum sie gerade jetzt so genau stimmen. So zu reden ist er nicht gewohnt, und doch sagt er nichts anderes, als er sonst denselben versunkenen Gestalten erzählt, ja wahrscheinlich hat er gestern schon erzählt, daß seine Nachbarin ein größeres Auto fährt als er, ohne je gearbeitet zu haben, oder war es die Geschichte vom Fußballspieler, der nach jedem Spiel mit einem anderen Mann Hand in Hand das Stadion verläßt?  

Nein, neu war nichts, was sie erzählten, nichts neu, was sie erlebten, doch hie und da, zwischen dem dritten und dem fünften Glas, spürten sie, daß irgendwo in ihnen etwas lebte, das sich ihnen entzog, sie Lügen strafte, sobald sie von etwas anderem, Belanglosem, sprachen, und das ihnen doch so lieb und teuer war, daß sie immer wieder, Tag für Tag, dieses bestimmte Glas tranken. Hätten sie versucht, es auszusprechen, es wäre ihnen, sie spürten es, auf der Zunge zu nichts, zu einer Lüge zerronnen. So sagten sie nichts, genossen nur leise das Gefühl der Wärme, das an den kalten, Regenwasser glucksenden Tagen ein Vorrecht der Nacht war, und strafften ohne es zu merken den Rücken, wenn ein anderer mit dieser eigentümlichen Leichtigkeit zu erzählen begann, die ihnen bei Tag, zu anderen Gelegenheiten, verdächtig vorgekommen wäre. 

Mit leuchtenden Augen bestellen sie noch ein Glas in der Hoffnung, das Leuchten am Leben zu halten, und müssen doch mitansehen, wie es erst beginnt, unstet zu flackern, wenn einer beim Reden eine Pause macht, Luft holt, um ja schnell wieder fortzufahren, und wie es schließlich beginnt schwächer zu werden. Und sie reden lauter, schneller, unmerklich nur zu Beginn, doch bald schon schreien sie, bellen ihre Worte gegen die langsam wieder versinkenden Gesichter, um sie, dieses eine Mal nur, aufzuhalten auf ihrem täglichen Abstieg in die feuchte Gleichgültigkeit,, und als es nichts nützt, werfen sie ihre letzte Waffe, die Faust auf den Tisch: Halt! Doch dieser glückliche Augenblick, da alles stimmte, da sie sich nicht von sich selbst betrogen fühlten, läßt sich nicht mehr zurück herbeizwingen. Alles fällt wieder Stück für Stück an seinen Platz zurück, was eben noch leicht und schwebend zwischen ihnen hing, sie hören wieder den Regen draußen an die Fenster hämmern. Die vorher ruhig waren, beginnen sich wieder unbequem in ihren Mänteln zu regen und verlangen übertrieben laut die Rechnung; die eben noch eine Kraft gespürt hatten, mit der sie irgendwie irgendwo irgend etwas hätten tun können (etwas, das ehrlicher, wirklicher war?), sanken wieder zu runden unbewegten Haufen zusammen, die nie etwas anderes sehen, fühlen oder sein würden, als sie jetzt sahen, fühlten und waren.  

Es mag die Zeit gewesen sein, da spätabends , vielleicht beim nichtigsten Anlass, in den Wirtshäusern die Fäuste flogen, die sich eben noch auf dem Tisch geballt hatten, im irren Versuch etwas aufzuhalten, das niemand beim Namen nennen konnte; aus Wut darüber und Enttäuschung, daß diese Nacht, diese Nacht und der Morgen, der ihr folgen mußte, wieder so sein würden wie alle anderen vorher. 

Und wenn es so war, und wenn niemand da ist, um mir zu sagen, daß es so war, so ist doch auch niemand da, der mir sagte, daß es nicht auch anders war. Gab es nicht auch die stillen, hellen Zimmer, in die sich zwei zurückzogen, erst einer, dann die andere, als träfen sie sich zufällig? Zufällig verletzt, absichtlich genesend, haben sie nicht mehr den Mut, sich ihr Wollen einzugestehen, als hieße das dem andern eine mächtige Waffe in die Hand zu geben. Würde er sie nicht einsetzen, wenn der Tag, der Monat zu Ende gegangen war? Würde er nicht neue Wunden reißen? 

Helena, meine schöne Helena, ich sehe das Licht der Nacht auf ihren Brüsten, sehe ihren Körper erstarrend auf den weißen Laken vor mir zucken, während meine Hand in ihr versunken meine Hüften zwischen ihre Schenkel führt, ich spüre das Ausatmen eines großen alten Fisches, der mit einem Mal alles schwarze Wasser in sich aufsaugen wollte und jetzt zerfließt, all die ungezählten Jahre, von denen er nichts weiß, alle Wunden, die sie ihm geschlagen haben, alle abgesprengten Schuppen, der Tiefe übergibt, in die er sinken wird.  

Es gab sie, die lichten Räume, und wenn das Licht auch aus Gläsern kam, waren sie doch still genug, daß wir nicht ständig unsere Wunden brennen spürten wie dort, wo das Leben sich abspielte, das andere als wirklich zu bezeichnen übereingekommen waren, scheinbar. Vielleicht gab es da welche, vielleicht auch nicht, die nicht mehr nachvollziehbar sein wollten, denen die Augenblicke, da niemand sie sah, da sie keine Spuren hinterließen in irgendwelchen Systemen oder Aufzeichnungen, die Augenblicke waren, aus denen sich ihr Leben zusammensetzte. 
 
 
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Denn der Regen hatte die große Maschinerie nicht lahmgelegt. Immer noch wurde jede Bewegung, jeder Vorgang aufs genaueste registriert und in immer besser entwickelten Systemen aufgezeichnet, jede Übersiedlung, jede Regung, jeder Atemzug. Jeder Verkauf, jeder noch so kleine Handel schien an einer, meist an zwei, drei oder mehr Stellen auf. Davon, daß der alte Bauer auf dem Hof links die Straße hinunter (der letzte der Gegend, natürlich) zu seinem Sohn gesagt hatte, die zwei Kühe, die noch im Stall stünden, gehörten jetzt ihm, nahmen der für Viehhandel zuständige Steuerbeamte, der Zuchtbuchführer der regionalen Braunviehzuchtverbandes, der Herdebuchführer des Dachverbandes der regionalen Braunviehzuchtverbände, die Sekretäre der Abteilungen Finanzen, Landwirtschaft und Gesundheit bei der städtischen Verwaltung, der beigeordnete Prüfer zur Fachstelle für Landwirtschaftsförderung bei der Landesregierung sowie der Schätzungsbeamte der Wertfestsetzungskommission und die beauftragten Sachverständigen einer Versicherungsgesellschaft und zweier Banken (einer von ihnen ad interim tätig) nebst dem Bauern, seiner Frau, seinem Sohn, zwei Nachbarn, dem Notar und einem Gerichtsschreiber, und dann noch zwei Kühe dankbar Kenntnis, alle gewiß unbescholtene Leute, die wußten, daß alles seine Ordnung haben müsse, wenn alles irgendwie funktionieren sollte.  

Der Gerichtsschreiber, ein molliger junger Mann mit kurzen Haaren und einem eigenartig verstörten Blick (und doch, da war etwas in seinen Augen, das Vertrauen gab, das dalag wie das verletzliche weiche Innere einer Muschel, wenn er sie hinter seinen dicken Brillengläsern aufriß, um die regennassen Gestalten vor seinem Schreibtisch anzusehen), der Gerichtsschreiber hatte nicht den Kassier der Gerichtskasse gerufen, sondern selbst die fällige Gebühr in Empfang genommen und sie später dem Kassier gebracht, um Zeit zu sparen, wie er der bald darauf mit seinem Fall betrauten Amtsführungskommission gegenüber wiederholt beteuerte. 

Man ließ es mit einer Rüge bewenden, doch geglaubt hat ihm niemand. 

Niemand glaubte mehr irgendjemandem. 

Seine Personaldaten waren ebenso bekannt wie seine zivilen Daten, und bekannt war auch, daß seine Schwester, als sie fünfzehn gewesen war, angeblich nach einer, nie erwiesenen, Vergewaltigung durch ihren Vater, einen zwar als "Rauhbein" und Trinker verrufenen, polizeilich aber völlig unbescholtenen Frührentner,, versucht hatte, das Elternhaus anzuzünden und über die Grenze in das nahe Nachbarland zu gelangen. Der Schaden am Haus war gering gewesen, und der Grenzer, dem sie im Zugabteil auffiel ("Sie hielt mir ihren Paß verkehrt herum hin.") und der sie zur Kontrolle mitnahm, bekam eine lobende Erwähnung. Der befaßte Jugendrichter (ein Kumpel ihres Vaters aus der Militärzeit) lehnte es ab, die angebliche Vergewaltigung ins Protokoll aufzunehmen ("Eine reine Schutzbehauptung, die nur noch mehr Schaden anrichtet, für sie mehr als für andere."), wozu er als Einzelrichter befugt war, und bestimmte, das sie den angerichteten Schaden wieder gutzumachen habe, zahlbar an ihren Vater, der gleichzeitig zum Sachwalter ihres Vermögens bis zum Zeitpunkt der vollständigen Tilgung der Schuld eingesetzt wurde. Bekannt war, daß sie jetzt, vier Jahre später, immer noch verwaltet wurde (warum, bei der geringen Summe, wußte man nicht, und man wollte es auch nicht wissen), und bekannt war, daß der junge Mann mit dem unbeholfenen Auftreten sie mochte und ihr gern, auch finanziell - geholfen hätte: Zur Untersuchung des Falls hatte er sich völlig unerwartet als Zeuge gemeldet, um gegen seinen Vater auszusagen, war aber von dem erwähnten Jugendrichter, dem er sich in einem tränenreichen Telefongespräch anvertraut hatte, als solcher nicht zugelassen worden, da er nichts zu dem verhandelten Fall, nämlich der Brandstiftung, sondern zu etwas anderem, zu sagen hatte, und ihn darauf verwiesen, daß er, wenn seine Schwester es nicht tue, als eigener Kläger gegen seinen Vater ("Stell dir das vor: dein eigener Vater!") auftreten müsse; der Prozeß aber würde natürlich nicht mehr ihm, dem Jugendrichter, unterstehen, sondern anderen, und wer wußte schon, wie diese Richter, die täglich mit Mördern und Huren umgingen, die etwas unklaren, wütenden Aussagen eines Halbwüchsigen bewerten würden, und außerdem könne das Jahre gehen, der Ausgang sei höchst ungewiß, und überhaupt habe das nichts mit dem jetzigen, vergleichsweise harmlosen Verfahren gegen seine Schwester zu tun.  

Bekannt war auch (doch nicht aktenkundig), daß der junge Mann nie etwas anderes sein würde als der Hilfsschreiber, der er war, und daß er, solange er hier Dienst tat, nie etwas anderes tun würde als das,was er tat, nämlich festzustellen, daß irgendwo irgendetwas geschehen war, und nicht einmal das konnte er richtig machen. 

Als der Bauer einen Monat später kam, um die Schenkung zu widerrufen, saß er immer noch verloren hinter seinem Schreibtisch, doch irgendetwas in seinen Augen war anders geworden, irgendwie kälter, obwohl sie zu brennen schienen ... 

Ja, es gab sie, die lichten Räume der Unsichtbarkeit, und es gab solche, die ohne auf die Folgen zu achten, Bomben von verheerender Wirkung bauten und in belebten öffentlichen Gebäuden explodieren ließen. 

Soll ich sagen, daß niemand wußte, wie die Dinge lagen? Daß sie mit gesenktem Kopf ihrer Wege gingen in der Hoffnung, durch Stillhalten nicht aufzufallen, dem Gesetz und den Organen seiner Ordnung ebenso unsichtbar zu bleiben wie den gierigen Blicken der anderen Mörder und Räuber? Könnte ich es sagen? 

Gewisse Rituale zeichnen sich dadurch aus, daß es nicht genügt, ihre Regeln zu befolgen, um zu dem, subjektiv oder objektiv, festgesetzten Ergebnis zu gelangen. Es müssen darüber hinaus von den Teilnehmern bestimmte Verhaltensregeln eingehalten werden, die den einfachen Rahmen des R. überschreiten, manchmal um vieles. Speisevorschriften gehören zu den häufigsten, besonders Fasten, manchmal wochenlanges, und das Vermeiden bestimmter Nahrungsmittel sind weit verbreitet. Aber auch sexuelle Enthaltsamkeit ist häufig, ebenso wie andere gesellschaftlich relevante Vorschriften. (Beckham beobachtete bei den Kweta zur Zeit der Regen- und Sonnentänze ein rundes Dutzend, darunter etwa das Verbot an die ausgewählten Tänzer, in den Wochen vor der Zeremonie das Wort "K´né" ["Nein"] auszusprechen, oder jenes, die Hütte eines Stammesoberen zu betreten.) Interessant daran ist, daß mit dieser Erweiterung das R. über den Kreis der eigentlich Beteiligten hinaus Bedeutung gewinnt, ja nicht selten ganze Gesellschaften sich seinen Regeln im weiteren Sinn zu unterwerfen haben, sei es, daß bei Zuwiderhandlungen das Bewußtsein sozialer Konflikte besteht, sei es, daß eine Pönalisierung im institutionellen Rahmen erfolgt. Wie bei allen R. ist besonders beim erweiterten R. der Hang zur Kollektivierung (vgl. auch dort) in einem Maß ausgeprägt, das den Schluß nahelegt, sie sei überhaupt eine seiner unverzichtbaren Voraussetzungen, und damit auch dem Bewußtsein der "eigentlichen" Irrelevanz und Beliebigkeit der verschiedenen (kollektivierten) Handlungen unterworfen (vgl. die Anmerkungen zum Zweck des Rituals). 

Doch die Tage zerrinnen mir im Regen, und alles, was war, was sein wird, verliert sich in jenem Strich zwischen Wolken und Horizont, der meiner Helena Fluchtweg und Mahnung zugleich war: zu etwas, das nicht ist. 

Wenn ich nur schlafen könnte. 

  
 
 
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