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Erste Menschen 

Aber: erzähle ich? beschreibe ich? erfinde ich? Um dieser einen Eitelkeit willen: Ich weiß es nicht. Nur dieser Wind - horch! - der vorbeizieht, der hier ist und nicht, er könnte es wissen: er trägt mein Gesicht mit sich. 

Da ich dies aufschreibe, muß es einen Augenblick geben, in dem das Schreiben geschieht, dessen bin ich sicher. Egal, in welcher Beziehung meine Worte zu dem stehen, was sie besagen, es muß noch etwas geben, das außerhalb von ihnen liegt, sich vielleicht ihrem Zugriff entzieht. Sonst dürfte jetzt nicht nach einem Augenblick, einem Atemzug der nächste kommen, ohne daß ich von ihm weiß, von ihm vorher schon berichten kann. Ich sage "jetzt", meine den Augenblick, da ich "jetzt" schreibe (oder einen andern), und bin schon mit den Zeilen weitergedriftet in eine neue Wirklichkeit, ein neues "Jetzt" - zum alten sage ich jetzt "damals", dabei liegt es nur gerade fünf Zeilen, zwei runde Zentimeter, zurück. Ich blicke auf, sehe ein Zimmer, sehe Tisch und Bett, die mir entfernt vertraut vorkommen, wohl von früher her, es ist wohl mein Zimmer. Wenn ich jetzt sage, daß es später noch dasselbe Zimmer war, berichte ich aus Erfahrung, erinnere mich eines weiteren Augenblicks, den ich mit dem ersten vergleichen konnte, und sage es in einem dritten, den ich mitgenommen habe und doch nicht einen Schritt lang festhalten konnte: Ich mußte ihn erst gegen einen vierten, fünften, sechsten, dann schließlich einen letzten eintauschen, dem ein weiterer letzter gefolgt sein muß, denn sonst hätte ich es nicht aufschreiben können, dann noch einer, ein wirklich letzter, um es mit einem Schlag, einem Punkt aufs Papier für wahr zu befinden. 

Und sie kommen unweigerlich, die Augenblicke, unfehlbar, wie es sonst nur Göttern und Päpsten nachgesagt wird, kommen sie, folgen einander, immer schneller, will mir jetzt scheinen, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind, dann wieder so langsam, daß ich mir ihrer Bewegung gar nicht bewußt werde. Seltsam: ob schnell, atemlos oder langsam, hauchend, es bleibt, für einen Augenblick, der Eindruck, daß ich sie nicht gegeneinander abgrenzen, vereinzeln kann, daß sie ineinander übergehen. 

Eine Fotokamera kann das, sie hat alle Zeit der Welt dazu. 

Ob ich deshalb das Gefühl nicht loswerde, daß ich lüge, egal, was ich sage, nur schon weil ich es nicht schaffe, ein Bild festzuhalten, das vorbeizieht, einen Augenblick mit Sicherheit zu bestimmen? Nur schon weil ich nicht der einen Zeit den Vorzug vor der andern geben kann, weil ich nicht jetzt erzählen kann, was damals "jetzt" war und es nicht mehr ist, ohne mich - eben - der Lüge schuldig zu machen, weil jetzt eben nicht mehr "jetzt" ist? Mag sein. 

Wenn ich jetzt wieder aufsehe - dasselbe Zimmer, dieselben Möbel - und mir alles ganz anders vorkommt, ich mich im selben Raum plötzlich ganz anders fühle, und dabei immer noch behaupte, daß sich nichts verändert hat in diesem Zimmer - verstehst du meine Unsicherheit, Helena, wenn ich hinter dir herschreibend frage, ob und wenn ja, was ich schreibe? Wenn ich im hellsten Licht plötzlich die klarste Einsicht in der Dunkelheit vermute, die mir verborgen bleibt? Man sollte mir ebensowenig trauen wie ich mir selbst - oh, nicht aus Arglist, aus lauter Ehrlichkeit versuche ich über die unvermeidbaren Lügen hinwegzutäuschen -, denn was immer ich sage, ob es "wahr" ist oder "falsch", es wird allemal gelogen sein. 

So wie das,was alle sagen, im übrigen. 

Und: Kennst du die Rituale? Die dunklen Schächte, Rutschbahnen, auf denen wir als Kinder gern gespielt haben mögen, die Röhren, deren Einstiegsluken sich hinter jedem Eck, jedem beliebigen Vorfall, jedem Blick, jedem falsch oder richtig gesagten Satz zur rechten oder falschen Zeit auftun können, ohne daß wir sie sehen; in die wir dann bereitwillig steigen, ohne es zu bemerken; die wir uns dann Schritt für Schritt entlanghangeln und meinen, wir blieben immer am selben Ort zu selben Zeit, meinen, daß wir meinen, frei reagierend, antwortend auf das, was außen ist, wo wir doch nichts tun als unsere Taubheit für andere Worte, unsere Blindheit für andere Bilder, Stück für Stück von Erde zu Stein zu steigern, während wir in einem stockdunklen Schlauch entlangrutschen, der uns in Wahrheit gar keinen anderen Weg offenläßt als sich selbst - abwärts, der Richtung des Rituals nach? Und in aller dahinfliehenden Dunkelheit glauben wir klar zu sehen - um so klarer, je weniger wir wirklich wahrnehmen, je weniger uns ablenkt, um so überzeugter von unserer Erkenntnis, je enger der Schacht, je schneller unser Fall wird. 

Das eitle Rasen der Vernunft. 

Blinde, die für wahr halten, was sie an der Innenseite ihrer starren Augenlider zu sehen meinen (und könnten sie etwas sehen, das wahrer wäre?). Taube, die das Rauschen in ihren erstorbenen Ohren für die Stimme halten, die ihnen in allem recht gibt, was sie mit ihren stummen Mündern sagen. So getröstet gehen sie dann aufeinander los und spielen ihre eigene Wahrhaftigkeit bis ins letzte durch - und wehe, sie treffen auf einen, der, weshalb auch immer, nicht mitspielt. Wehe, es kommt einer, der zweifelt, ob ihre Bilder echt sind, und der auch keine andern sieht, der die Taubheit nicht als Folge überlauter Eingebung ansieht, sondern für das, was sie ist - wehe... Aber es spielen ja alle mit - fast alle -, wer wollte sich schon ihren Zorn zuziehen, wer ihren Haß ertragen, mit dem sie verfolgen, wer ihnen, in aller ihrer Überzeugung, auch nur andeutet, was sie möglicherweise heimlich spüren, ohne es sich einzugestehen: daß sie Maulwürfe sind in den finsteren Schächten ihrer selbst, hier und dort einen Hügel aufwerfend, wenn es ihnen unter der Erde zu eng wird, die dann aber, kaum daß sie die Sonne sehen, wieder schnaubend zurückkehren in die schützende Dunkelheit. Gebunden an die lichtlosen Gänge, bemerken sie nicht, daß es immer dieselben sind, geborgen in den Tiefen einer Nacht, die sie für den Tag halten, ergründen sie immer wieder die selben Winkel, die sie für geheim halten, schieben dem brennenden Teufel dort draußen immer wieder denselben Schutt ins Gesicht. 

Wer sollte es ihnen sagen, da sie in den dumpfen Tiefen ihres Baus nur ihr eigenes arbeitsamen Schnaufen hören? Da sie, was an Lauten doch zu ihnen durchdringt, für das ferne Fallen von Erdklumpen in einem anderen Teil ihres vermeintlich riesigen Gängesystems halten und sich aufmachen, um die schadhafte Stelle zu suchen, auszuräumen und wieder irgendwo einen neuen Haufen aufzuwerfen? So bekommt der, der zu ihnen hineingeredet hat, einen Wurf Erde zur Antwort, den sie in der Finsternis für seine Worte gehalten haben - ausräumen! - und kein Gedanke daran, daß es ein Rufen aus einem benachbarten System von Gängen gewesen sein könnte, ein Zeichen aus einer anderen Welt, die so verschieden und doch im Grunde so gleich ist. (Welch ungeheure Wirkung haben Blicke auf uns, die wir wortlos auffangen, zwei lebende Punkte in einer riesigen Menge, die einen einzigen Punkt bezeichnen, der auf uns gerichtet erscheint: im Guten wie im Schlechten eindringen will in das geheime Reich hinter unseren Augen, um nach dem kleinen beweglichen Tier zu suchen, das unser blindes, unser wirkliches, unser eigentlich sehendes Gesicht trägt. 

Seele: ein altes, ein müdes, glanzloses Wort.) 

So graben sie nebeneinander her - ich sage "sie" und meine uns alle, verloren im Regen, seltsame traurige Affen, die nicht wissen, woher ihre Traurigkeit kommt, diese abgrundtiefe stille Traurigkeit im Angesicht der strotzenden Fülle, des unabläßlich pulsenden schwellenden Lebens rundum, draußen - und erschrecken zutiefst, wenn ein anderer zu ihnen hinein vordringt und sie plötzlich eine andere Anwesenheit wittern: keine schützenden Erdwälle mehr, keine Masken und keine Rituale. Nur mehr nackte Gegenwart, reines dunkles Gegenüber, das keine Lügen zuläßt, Wirklichkeit, die jetzt geschaffen wird. Wortlos. Dunkel. Unbeschrieben. Ein Gefühl, ein See zwischen zwei Punkten am Ufer, der Geruch des Windes aus irgendwelchen nahen Feldern. Endlich hat das lange Kriechen durch enge Schächte ein Ende, endlich ein Grund, anzuhalten. Endlich Ruhe. Ehrlichkeit.  

Nun, Helena war weg, und sie kam auch am Abend nicht wieder. Trübes Licht stand in den Räumen, unbewegt: etwas fehlte. 

Nach und nach hatte ich im Schlafzimmer, im Bad und in der Küche Ordnung gemacht, Pfannen Stühle Teller Flaschen Bett Kleider Boden - danach wieder Stille. Den Regen muß ich wohl gehört haben, wenn ich mich auch nicht daran erinnere, ihn ja, den ewigen, unermüdlichen, und es wird sein Prasseln, sein Rauschen gewesen sein, das mich jetzt denken läßt, daß es still war. Ich saß in der Küche, als draußen das Licht langsam verschwand, und sah aus dem Fenster. 

Dann saß ich im Wohnzimmer, las Zeitungen und hörte vielleicht Musik. 

Dann hörte ich nur mehr Musik. 

Ich nahm ein Bad, trank dazu Weißwein. 

Dann hörte ich Musik 

Der Wein machte mich schläfrig, genauer, etwas in mir erinnerte sich an die morgendliche Übelkeit. Ich stellte die Flasche in den Kühlschrank. 

Die Platte spielte immer noch, die Musik begann mich zu langweilen. Ich kannte sie, Stille. 

Nur der Regen, diesmal bin ich sicher, Stille. 

Da fiel mir wieder die Frau ein, die am Morgen, als ich erwacht war, aus dem Zimmer gehuscht war; doch kein Bild blieb mir vor Augen, kein Gesicht und keine Farbe, nur diese Bewegung, mit der sie verschwunden war, sonst nichts. Helena konnte es wohl nicht gewesen sein, sie hätte sich nicht so notdürftig versteckt, um dann - wenn sie mich schon nicht wecken und sich verabschieden wollte - doch noch heimlich zu verschwinden. 

Warum eigentlich nicht? Ich war schließlich zu sehr mit mir beschäftigt gewesen, um gleich nachsehen zu gehen. Vielleicht hatte sie der Fischgestank vertrieben, sie konnte sehr empfindlich auf solche Dinge reagieren, vielleicht hatte ich schon vorher, im Schlaf erbrochen, vielleicht ihr das Kissen, die Haare, das Gesicht verkotzt. Ich denke, sie hätte sich darüber geärgert, genug, um mich in meinem Gestank sitzen zu lassen - auch für ein paar Tage, wenn die Dinge gut liefen und sie in der Stimmung war, wegzufahren oder Freunde zu besuchen. Möglich, gewiß. Ich hatte öfter gesagt, daß sie ruhig einmal wegfahren, verschwinden könne, ohne daß ich mich geärgert hätte: ich sei ja nicht so kleinlich - nur hatte sie diese Freiheit nie gewollt, immer bloß abwehrend gelacht. Ihr Blick schien etwas zu sagen, wie er mich so leicht von unten herauf traf, und ich hatte mich schon gefragt, was... Möglich, daß sie sich jetzt dieser Freiheit erinnert und sie sich genommen hatte. Möglich auch, daß sie ohne Gepäck gegangen war, der Kleiderschrank schien so voll wie immer, möglich, daß sie, gebeutelt von Ekel und Zorn, ihre Geldtasche und ihren Paß in der Schublade vergessen hatte - ich war natürlich nachsehen gegangen, hatte die Lade dabei so langsam aufgezogen, als könnte ich noch etwas an ihrem Inhalt ändern: Natürlich lag beides da, und ich ärgerte mich, daß beides dalag, und über meinen Aberglauben -, möglich, gewiß, doch irgendwie wußte ich schon, daß es nicht so war, irgend etwas sagte mir, daß es nie so war, wie ich es mir dachte, daß immer andere Menschen andere Gründe finden würden, die mir aus irgendeinem Grund verschlossen blieben. 

Möglich war auch, daß es sommers nie regnete. 

Es mag damals gewesen sein, an diesem ersten einsamen Abend, da nichts um mich her lebte, was nicht ich zum Leben erweckte (blöder Gedanke), da sich nichts, auch nicht das Geringste, in der Wohnung änderte, das ich nicht selbst veränderte, an diesem Abend könnte mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen sein, daß da irgendwo Zusammenhänge bestanden zwischen den Brocken, die scheinbar zufällig am Rand des Weges auftauchten, auf dem ich den Tagen nachlief: Der Alte, der Regen, dieses beständige Gefühl, von Augenblick zu Augenblick nur einem Schema zu folgen, schließlich Helenas Verschwinden - irgendwie paßte das alles zusammen... aber eben nur irgendwie. Und noch ein Gefühl machte sich da bemerkbar zwischen den dumpfen Vorhängen und den viel zu weißen Wänden, nämlich jenes, in einem geschlossenen Raum zu sein, der von außen bedrängt wurde, in den irgend etwas Einlaß suchte, an Türen, Fenster, Decke und Wände suchend rieb und drückte, unmöglich zu sagen, ob in guter oder schlechter Absicht. Ich sehe den Raum nicht vor mir, es könnte jeder sein, sagen wir: dieses Schlafzimmer hier mit seiner niedrigen Decke, Türen auf zwei und Fenster auf einer Seite, eine Wand ungeteilt, dafür ein Bild aufgehängt: Farben. Darin ich, der ich aus dem Fenster zu sehen versuche. Ein eigenartiger Druck liegt in der Luft, ein Druck, der das Licht bricht, so daß es von nirgendwo mehr herzukommen scheint, ein Druck, der die Zeit verbietet, der keine Zukunft mehr zuläßt, keinen Gedanken mehr daran, was nachher kommen könnte. Ein Druck, der allgegenwärtig die Gegenwart erobert hat. Und irgendwie hängt er mit dem da draußen zusammen, das herein will, irgendwie muß es erst verschwinden, muß erst das unheimliche Drängen draußen aufhören, bevor wieder ein Jetzt dem andern in artig wohlerzogener Reihe folgen darf, bevor das geübte Vontagzutag wieder Fuß fassen kann. Das heißt, daß draußen die Zeit vergeht, jedenfalls stelle ich mir das so vor, dort draußen schleicht dieses Etwas herum und spürt die Zeit in seinem Rücken (hat "es" einen Rücken?), spürt sie vielleicht als ein Fließen zwischen den Dingen, die es sieht (sieht "es"?), dem Wind nicht unähnlich. Oder es hört sie sich bewegen, hört ein Krachen, ein dumpfes Knirschen wie von riesigen Rädern, malmendes Weiterrollen, blind für das, was sie unter sich zerquetschen. Erschrickt es da und will ängstlich bei mir Zuflucht suchen? Erscheint ihm mein bedrückter Kerker als letzte Bastion der Sicherheit vor dem Schrecklichen dort hinten? Oder triumphiert es, seines Sieges gewiß, will es das Malmen und Zerquetschen in meinem Raum austoben, blutberauscht darin wüten? Will es diesen vorletzten Ort der Stille, der Ruhe vernichten; erträgt es ihn nicht in seinem Rasen? Hier wird alles zum Zeichen, zum Symbol; alles bedeutet etwas oder deutet auf etwas hin, das bedeutet. Jedes Geräusch, jeder kleinste Vorfall kann ein Schlüssel sein, um zu verstehen, was draußen vorgeht, was überhaupt draußen ist. Welchen Grund hat eine vorübergehende Stille - bedeutet sie Rückzug, Ermüdung oder den letzten, vernichtenden Anlauf? - und welchen ein lautes Poltern - tobender Ansturm oder letzter, endgültiger Zusammenbruch vor den Mauern? Mit ein wenig Zeit, ja, da ließen sich die Antworten geben: wenn man abwartet. Wie aber, wenn die Zeit nur woanders, draußen vergeht, und drinnen alles gleichbleibt und nur die Ergebnisse spürbar werden? Sehend erblindet, hellhörig ertaubt - ein Bild, gewiß, aber das einzige, in das einen vorübergehenden Farbtupfer zu setzen die Zeit uns erlaubt. Denn sie ist es, die uns blind und taub werden läßt, sie, die uns an einem Ort festhält und uns zugleich laufen, rennen heißt. Wohin? Das verrät sie nie. 

Also ist es gut so? Zu sehen, was draußen ist, hieße, hinter die Zeit sehen, hieße erkennen, woher das kommt, was wir sehen, und, wichtiger noch, wohin es geht. Aber will ich das? Will ich warten, bis geschieht, was ich schon gesehen habe, verhärtend, vergreisend, verfallend vor einem Bild warten, das lange schon fertig gemalt ist und jetzt Stück für Stück enthüllt wird, nur um dann festzustellen, daß die Unterschrift nicht die meine ist? Es wäre ein religiöses Bekenntnis, dieses Warten, ein Eingeständnis der eigenen Nichtexistenz! Also will ich sehen, erkennen, ohne zu warten, will gestalten, Farbe und Pinsel selber zur Hand haben, denn - oh nein - das Bild ist noch nicht fertig, der Teil der Leinwand, den ich nicht sehe - egal, wie groß er noch sein mag -, ist noch weiß, geprägt nur von den Richtungen der Stoffasern. Blinde Hoffnung? Vielleicht. Das Werk welchen Webers ist sie? Zu viele Namen fallen mir ein, sogar ein paar göttliche darunter - es muß eine große Firma sein, mit vielen Angestellten. 

Gestalten also, hinaus aus dem Raum und dem gegenübertreten, was draußen ist - ich will nicht warten, bis es früher oder später zu mir hereinkommt, oder es nie zu Gesicht bekommen und für immer, für eine nicht meßbare Zeitspanne ausharren. 

Sehr gut. Also hinaus. 

Bloß welches war der Zusammenhang? In welcher Ordnung wollten die Zeichen gelesen werden, um sich zum Bild zu fügen? Der Regen, die ausgetretenen, ziellosen Pfade, der Alte, Helena? Sage ich: Es hatte zu regnen begonnen, weil wir uns alle damit beschieden hatten, zu warten, bis das Leben von selbst verginge - kenne ich Sagen, in denen kommen Strafen des Himmels vor, werden ganze Landstriche, Völker ausradiert, weil sie irgendeine cholerische Gottheit erzürnt hatten: hatten wir? Und der Alte: Mein persönlicher Warner, ein Engel: Noah, gehe hin und baue ein Schiff, darauf von jeder Art zwei Platz finden; gehe hin und verwehre keinem Einlaß, der ihn begehrt. Ein Racheengel? 

Unsinn. 

Es sind irdischere Fäden, in die wir uns verstricken, irdische Spinnen, die uns umgarnen - ganz sanft nur zu Beginn, eine Wohltat fast, ein Streicheln, der leichte Druck, der uns hält und uns zusätzlichen Halt gibt, dann etwas fester, immer fester... -, bis sie mit unfehlbarer Präzision ihr Ziel erreicht haben: Wir sind uns ihres eisernen Griffs nicht mehr bewußt, halten unsere erzwungene Reglosigkeit für freiwillige, wohlverdiente Ruhe, halten das gefräßige Zappeln und Zucken ihrer Arme für unsere eigene Bewegung. 

Irgendwann muß ich eingeschlafen sein, ermüdet von der Ungewißheit, und es hätte mich nicht erstaunt, wenn ich den Traum in Maulwurfsschächten verbracht hätte, im ständigen Kampf mit riesigen Spinnen, die aus den Schachtwänden krochen, mich verfolgten, um ihre Fäden um mich zu legen - ich erinnere mich nicht. 

Doch da waren Spuren in meinen Augen, als ich erwachte, Spuren, die etwas in der Nacht hinterlassen hatte, als es an mir vorübergezogen war. Wie in alter Gewohnheit wandte ich mich zur Türe, um wieder einen Schatten huschen zu sehen, aber heute: nichts. Der Schemen mußte sich verzogen haben, bevor ich seiner Gegenwart habhaft hatte werden können. 

Helena war immer noch nicht zurück. 

Beim Kaffee dann kam mir der Gedanke, daß ich sie suchen gehen müßte, doch außer ein paar Telefonnummern fiel mir nichts ein, was für eine solche Suche nützlich hätte sein können. Ich mußte zur Arbeit. 

Einmal mehr war der Augenblick gekommen - wie so oft mit Helena, wenn wir in einen heftigen Streit verstrickt gewesen waren -, da ich eine Entscheidung aufschieben mußte, um dem Ruf zu folgen, den keiner an mich gerichtet hatte, wissend, daß ich ihm folgen mußte, aber nicht, warum. Dort, als Arbeiter war ich entbehrlich, auf kurze wie auf lange Sicht, und im schlimmsten Fall hätte sich Ersatz gefunden - hier war ich es nicht, zumindest glaubte ich das. Und trotzdem war ich fast jedes Mal gegangen, hatte in geöffneter Tür noch einen Blick wie zur Entschuldigung in wütende Augen geworfen, die, so froh sie auch sein mochten, mich nicht mehr zu sehen, doch meiner Gegenwart für eine Entscheidung bedurften. 

Wie oft?! 

Und wie oft hatte ich die Lage durch meine Abwesenheit verschlimmert gefunden, wenn ich zurückgekehrt war, wieviel Zweifel und wieviel wuterfüllte Annahme hatte sich da (Felsen aus Sand) zur Gewißheit verfestigt, als ich nicht da gewesen war, um Zeugnis abzulegen von dem, der ich wirklich war - oder zumindest dem, der ich zu sein glaubte? Da hatte in völliger Stille ein Wort das andere ergeben, hatten sich Ängste mit Enttäuschungen gepaart und schließlich das Bewußtsein, unwidersprochen zu bleiben, etwas hervorgebracht, das, ein Bild zwar auf einer verborgenen Leinwand, die Härte der Wirklichkeit besaß. 

Wieviele Schürfwunden und blaue Flecken hatte ich mir geholt, wenn ich am Abend, öfter noch in der Nacht zurückkam und diesem neuen Bild - von mir, oft - entgegentrat, wie oft mir den Schädel blutig gerannt, um es dann, im Morgengrauen zu stürzen: wie oft umsonst?! 

Ich fürchte keinen wie den, der im Besitz der Wahrheit ist. Über ihr werden andere vernachlässigbar, unerheblich und zu Lügnern gestempelt, wenn sie nicht in diese eine Wahrheit passen wollen, wenn sie immer noch darauf bestehen, sich in diesem Zerrbild nicht wiederzuerkennen, das ihnen vorgehalten wird - bis man es ihnen schließlich ins Gesicht schlägt und sie dann zwischen Trümmern, innerlich und äußerlich verwundet, sitzenläßt. Oh ihr Besitzer von Wahrheiten, scharfsichtige Erkenner von Wirklichkeiten, wenn ihr wüßtet, wieviel Leid ihr verursacht! Hat euch denn niemand den Zweifel gelehrt, den heilsamen Frager, der bei euch selbst beginnt und nicht bei andern, hat niemand euch beigebracht, eine Frage zu stellen und auch die Antwort zu hören, die der Gefragte gibt, und nicht die, die ihr selbst euch gegeben habt - wer weiß, wieviel vorher schon? Und wie hartnäckig verteidigt ihr euer Wissen, eure sogenannte Erkenntnis, welche Wunden, welche Narben, welcher Preis! 

Ach Helena, meine wunderbare unbeugsame Helena, sie besaß sich selbst und nannte es Wahrheit, nicht weniger und nicht mehr, sie genügte sich, und auch darin steckt wohl eine tiefe Weisheit; aber welche Härte! 

Hatte sie mich deshalb verlassen: weil ich mich sträubte, ihre Wahrheit anzuerkennen, in das Bild zu passen, das sie von mir entworfen hatte - hatte sie mich überhaupt verlassen? War sie je dagewesen? Oder war ihr etwas zugestoßen, das selbst ihr unbeugsamer Wille nicht hatte verhindern können? Hatte der Alte ihr etwas angetan, so war seine körperliche Schwäche nur gespielt: warum nicht? Hatte er sie entführt - gefesselt, betäubt (Äther und Chloroform kannte ich aus Filmen, aber irgendwer mußte sie ja erfunden haben), verschleppt? Hatte ein Komplize schon draußen gewartet, während wir drinnen noch dem Gerüst nachsannen, auf das diese Welt sich mehr schlecht als recht stützt, hatte er unbemerkt ein Pülverchen in mein Glas gestreut, um mich sicher aus dem Weg zu wissen, ein Pülverchen mit Fischgeschmack? Ich hätte es nicht bemerkt. Oder hatte er sie verführt, ihr glaubhafter gemacht, als ich es je konnte, daß es jemenden gäbe, mit dem zu zweit zu sein sich lohnte - egal, ob für eine Nacht oder für ein Leben; keine Fragen, keine Antworten, nur gelebte Gegenwart: was für ein Fest! Das hätte nach ihrem Geschmack sein können, ja. Die verbindliche, ernsthafte Seßhaftigkeit konnte ihr schon beim Gedanken daran Schauer über den Rücken jagen, das wußte ich - zu schweigen von dem Schreck, der sie in dem Moment angesprungen sein mußte, da sie zu erkennen glaubte, sich bei mir in sie verstrickt zu haben, als ich wieder einmal nicht da war. Und ganz hat dieser Glaube, zumindest der Verdacht, sie wohl nie verlassen. Und ganz unrecht mag sie damit nicht gehabt haben, wenn auch das Unbewegliche mir selber ein Greuel war, so habe ich doch immer die Ruhe, das Gleichgewicht zwischen Polen gesucht, wie verschieden sie auch sein mochten - verstehe das, wer wolle, ich werde der erste sein, ihn um Rat zu fragen. 

Ich öffnete die Tür, und einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, draußen, irgendwo im Regen, hielte etwas den Atem an, meiner Erscheinung ungewiß, unsicher, ob ich mich wirklich hinauswagen, ob und was ich tun würde. Doch nur einen Augenblick lang, dann sah ich ihn wieder, wie er war, den Regen. Übermächtig, allumfassend, als fiele er nicht, sondern als stünde er als gigantischer Zylinder auf dieser unsere Stadt, baute er sich vor mir auf. Doch keine Kleinheit war ihm fremd, er kannte jeden noch so verborgenen Winkel, sah in jedem noch so tiefen Schacht die zusammengekauerte Gestalt und goß sein Wasser zu ihr hinunter, und alles war ihm ausgeliefert. 

Ich könnte mich damals gefragt haben, ob es diese mächtigen Eigenschaften sind, die man Gott nachsagt, ob es diese allumfassend wirksame Gleichgültigkeit gewesen war, die einem der letzten Affen unter seinem Blätterdach das Gefühl in den haarigen Schädel getrommelt hatte, daß da draußen irgend etwas war, das weiter dachte als er selbst, daß da irgend etwas hockte, das so mächtig war, daß es sich nicht um die Auswirkungen seines Tuns scheren mußte. Und auch, ob er dieses Gefühl dann weitergegeben hatte, könnte ich mich gefragt haben, oder ob es in den andern Mitgliedern der Horde auch schon erwacht war, wie sie so hinausstarrten - unruhiges Wetzen auf dem feuchten zertrampelten Boden, ärgerliches, verdutztes Grunzen, achtlos zwischen den Fingern zerriebene Wurzelstücke -, bis schließlich einer kam, ein dünner, schwacher Affe mit unnatürlich großen Augen, der gar nicht aussah, als gehörte er zum gleichen Stamm, sondern eher, als wäre er der Vorbote einer beginnenden Degeneration, vielleicht der erste einer neuen, schwächlichen Rasse, die noch keinen Namen hatte, bis einer kam und das dumpfe Ahnen mit ein paar Gesten, ein paar Worten aus den Höhlen ihrer Augen hervorholen konnte. Der aussprach, was die andern zu sagen nicht in der Lage waren: daß da draußen nämlich etwas sei, von dem sie nichts wissen könnten, das aber viel mächtiger und stärker als der größte Berggorilla und dazu schneller als der tödliche Leopard sei, und daß sie in ihrer demütigen Ohnmacht einen Weg finden müßten, auf es Einfluß zu nehmen, wenn schon nicht, es sich gefügig zu machen, so doch es sich gnädig zu stimmen. Daß sie, statt herumzusitzen, etwas tun müßten. 

Und ich könnte mir gedacht haben, daß sie ihm zustimmten, weil sie froh waren, der Untätigkeit zu entgehen, daß es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel und sie sich um ihn scharten, der doch so einfach sagen konnte, was sie lange schon - wie lange? - gefühlt hatten, dieses Ziehen, vielleicht im Kopf, vielleicht in der Brust, das ihnen angst gemacht hatte, plötzlich so klar, so einfach, so leicht gemacht hatte mit seinen Worten. Sie konnten etwas tun! Ganz natürlich ist er es also, den sie fragen - nachdem sie im Übermut einer plötzlich gebannten Gefahr einen Tag, zwei Tage aufgeregt zwischen den Bäumen herumgerannt sind, um ihre Erleichterung den andern mitzuteilen: den Würmern, die sie aßen, vor lauter Freude massenhaft in sich hineinstopften, den unerreichbaren bunten Vögeln, den vermoosenden Baumriesen - und dann, an einem kalten nassen Morgen bemerkt haben, daß es immer noch regnet - fragten, was sie denn tun sollten. Und natürlich hat er keine Ahnung, wahrscheinlich wollte er sich nur ein bißchen Respekt, ein bißchen Aufmerksamkeit verschaffen (denn er war zierlicher gebaut als die andern, und auch seine Behaarung war spärlich, sein Kopf ein bißchen länger, ein bißchen kahler als die der andern: Umstände, die ihm seit jeher Spott und Prügel eingetragen hatten, geschweige daß ihn ein Weibchen unter ihren Busch gelassen hatte, wenn die Zeit gekommen war, da sie das Brennen im Bauch spürten - in den letzten beiden Tagen hingegen waren es viele und eine gewesen, in die er seinen Samen hatte legen können, darunter welche, die sonst nur von den Stärksten bestiegen wurden, von denen, die dann ihren Besitz stets siegreich bis aufs Blut verteidigt hatten). Doch jetzt sieht er dutzende von kräftigen behaarten Körpern vor sich, der eine oder andere trägt noch einen spitzen Stock vom Würmergraben, einer einen großen Stein, mit dem er Nüsse zermalmt hat, und er begreift, daß, wenn er jetzt versagt, er diese Prügel nicht überleben würde. Die betrogenen Männchen würden nicht zögern, ihm den Schädel einzuschlagen: unmöglich zuzugeben, daß alles nur ein schlechter Scherz war. Er zittert am ganzen Leib - in seinem Kopf breitet sich ein dumpfer Druck aus. In Panik blickt er um sich, seine Hände zucken, er tänzelt in winzigen Schritten hin und her; sein Blick fällt auf einen schmalen Streifen grauen Himmels zwischen den Baumkronen - "Ihr müßt alle nach oben sehen! Dorthin, wo der Regen herkommt!" kreischt er, vielleicht meint er, so ungesehen entkommen zu können, "Alle, sage ich, alle! Wehe, einer tut es nicht!" Die andern, erstaunt über seine plötzliche Erregung, sehen nach oben, was ihn wohl so aufregen mag, und sehen Blätter. Ganz andächtig stehen sie da und glotzen die Bäume an, von denen es heruntertropft. Keiner rührt sich. 

Ein unheimliches Gefühl geht da durch den verkümmerten Affen, ein Gefühl, das sonst nur die stärksten unter den Leitbullen erfahren dürfen: daß alle ihnen gehorchen - aus Angst, erschlagen, zerfleischt zu werden, aus Angst, ihre Gunst zu verlieren. Und irgendwie versteht er, daß es nicht er ist, den sie fürchten, sondern irgend etwas, das sie in sich selbst gespürt haben und gegen das deshalb ihre stärksten Armgriffe, ihre am gekonntesten zu Speeren gebrochenen Äste machtlos sind, irgend etwas, das nur er beim Namen nennen kann, und daß dieses Können seine einzige Rettung ist. 

"Ihr dürft es nicht beim Namen nennen!" schreit er, lauter als zuvor, "nie versuchen, sein Gesicht zu sehen! Unglück und Verderben brächte es über uns, die Würmer würden aus dem Boden steigen und verdörren, und niemals kämen neue nach!" 

Die sich schon gefragt hatten, was es dort zu sehen gäbe, wandten beschämt ihren Blick zu Boden. Einige warteten auf die Würmer. Das Schrille, Fremde in seiner Stimme hatte sie verstört - sonst hörten sie ihn nur so schreien, wenn sie ihn verprügelten. Er mußte also von irgendwoher Gewalt spüren: von ihnen war es keiner, das sahen sie.Was aber war es? Sie sehen, wie er sich an den dürren Baum klammerte, als würde er bedrängt - aber von wem? Hatte er nicht von einem mächtigen, gefährlichen Ding gesprochen, das stärker war als sie alle? Sie erinnerten sich dunkel. Einige mögen da unruhig um sich gesehen, das Gebüsch abgesucht, andere mögen mißtrauisch den Baum betrachtet haben, an dem er sich hielt. 

"Seht nach oben!" schrie er da wieder, "seht nach oben und hört nur auf meine Stimme! Denn ich bin der, der eure Augen sehen läßt, was sie sonst nicht sähen. Seht nach oben, und denkt an die Würmer!" Da das Gefühl der Stärke, das ihn beflügelt hatte, begonnen hatte zu verflachen und das Gemurmel in der Horde lauter geworden war, hatte er noch einmal zum gleichen Trick gegriffen - einen andern kannte ernicht: Sein Leben war eine einzige Unterdrückung und Ergebung, ein einziges Davonlaufen gewesen; er hatte keinerlei Erfahrung, was er mit Gehorchenden tun sollte. Da hörte der Regen auf, und ein Sonnenstrahl fiel auf den Boden der kleinen Lichtung, zwischen den vordersten der Meute und dem auffallend wenig behaarten Affen. Ein dunkles Raunen ging durch die Reihen. Dann kam Bewegung auf, warme Körper schoben sich aneinander vorbei, um besser zu sehen, und mancher sah sich besorgt nach seinem Weibchen um, das in unerhörter Selbständigkeit aus ihrem angestammten Kreis ausgebrochen war und nach vorne ging, dorthin, wo der weiße Affe an seinen Baum gelehnt stand und mit weit aufgerissenen Augen nach oben starrte. Doch keiner wagte etwas zu sagen. 

Wären sie nicht im Wald, unter den Bäumen gehockt, hätten sie schon vorher den hellen Streifen am Horizont gesehen, der sich unter die dicken grauen Wolken geschoben hatte und von Stunde zu Stunde heller und breiter geworden war. 

Was konnten sie schon tun gegen einen, der mit dem Ding da draußen im Bunde war, von dem sie selbst nur den Regen - vielleicht, und der Gedanke war nicht weniger beunruhigend, auch die Sonne, vielleicht gehörte sie auch zu den unheimlichen Mächten - bemerkten und gegen das sie so machtlos waren, verglichen mit ihm? Was, wenn er es einmal aus Wut für immer regnen ließe? 
 
 

 
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Von da an fürchteten sie ihn wegen seiner unheimlichen Verbindungen - nicht wie sie die starken Führer fürchteten, sondern wie die Giftschlange, die unter den großen Lattichblättern lauerte und sicheren Tod brachte, wenn man sie störte. Sie fürchteten ihn um seiner hellen Farbe, seiner wenigen Haare wegen, sie fürchteten seine Kinder, die, geworfen von wahllos bestiegenen Müttern, noch eine Spur heller waren als er selbst und unglaublich große Augen hatten (Was sahen sie alles, das die andern nie sehen würden?); sie fragten ihn um Rat, wenn etwas zu tun war, der Lagerplatz gewechselt oder eine Reihe Büsche ausgerissen werden sollte. Taten sie es nicht, wurde er furchtbar zornig, begann wieder zu hüpfen und zu kreischen, und da sie alle das Ding da draußen fürchteten, von dem er ihnen immer neue, immer noch schrecklichere Geschichten erzählte, kam es öfter vor, daß einer verprügelt wurde, der ihn erzürnt hatte. Bald hatte er eine Leibgarde von jungen starken Bullen, und die Horde mußte ihm zu essen bringen - ihm, seinen Frauen und Kindern, seinen Soldaten, die, wenn sie nicht auskundschafteten, ob nicht jemand etwas gegen ihn sagte, in den Bäumen saßen und nach draußen sahen, um den Himmel zu befragen, wie er es ihnen befohlen hatte. 

Und jedes Mal, wenn es etwas zu entscheiden gab, wenn "Das da draußen" gnädig gestimmt werden mußte, war er es, der sagte, was zu tun war, Beim ersten Mal mag er noch auf Bewährtes zurückgegriffen haben: Alle sehen nach oben, wehe, einer versucht etwas zu sehen. Seine Stimme klingt nicht mehr schrill, sondern laut, beherrschend; sie schreiben das seiner wachsenden Vertrautheit mit der Macht zu. Vielleicht erinnert er sich seines Zitterns und beginnt zu tanzen, zuerst nur kleine, abgehackte Schritte, später, da die Regenzeit wieder naht, längere, kompliziertere Schrittfolgen rund um den dürren Baum, der inzwischen auch mit unzähligen Gegenständen behängt ist - getrocknete Därme, seltsam gewachsene Wurzeln, Rattenköpfe: Eingebungen der langen, brütend heißen Sommernachmittage, da es nichts zu tun gab, als zu warten, bis die Frauen der Niederen Horde das Essen brächten, da er mit seinen Gardisten Zoten riß, um die Zeit und die Fleischfliegen zu vertreiben. Hat er an einem solchen Nachmittag befohlen, die Nachbarhorde anzugreifen ("Das da draußen will es!"), ein unerhörtes, noch nie dagewesenes Unterfangen, das Häufen von stinkenden Toten hinterließ, hat er sich, von seinen Soldaten angestachelt, eine getrocknete Flechte zum Zeichen seiner Würde auf den Kopf gesetzt? 

Hat er sich dann, als ihm die Warnungen auszugehen drohten, einen neuen Namen gegeben, einen neuen Stamm erfunden, um sich besser fernhalten zu können: den Stamm der Menschen? 

Könnte ich mir das gedacht haben, als ich erst - alte Gewohnheit - den Schlüssel im Schloß drehte, innehielt und ihn dann wieder zurückdrehte (hatte sie einen Schüssel mitgenommen)? Oder als ich einen Grashalm abriß und ihn zwischen Türblatt und Rahmen steckte, um am Abend gleich zu sehen, ob jemand da gewesen war? Möglich, ja möglich ist es, aber wer könnte das schon so genau sagen: was möglich und was wirklich ist? 

Jedenfalls ging ich arbeiten - nein, anders. 

Ich schob mich Schritt für Schritt von einem bekannten Punkt zum nächsten vor, von der Parkbank zum Abfalleimer, von der Hausecke zur vierten Laterne, abbiegen, vor bis zu der hellen Linie der Bordsteine, die immer noch unwirklich vor sich hin dampften, abbiegen, die Straße hoch und so weiter, doch heute war alles anders: es war, mit einem Mal, nicht mehr so naürlich, daß die Dinge so da waren, es war, als ob sie über Nacht jemand weggenommen und am Morgen, im ersten Dämmer, wieder hingestellt hätte, genau gleich, und doch irgendwie anders, wie ausgeliehen, auf Miete abgestellt, und irendwann würden sie wieder abgeholt, dann für immer, oder bis zum nächsten Jahr, zum nächsten Fest - jedenfalls auf Abruf. 

Schicht um Schicht hob sich der Regenschleier vor meinem Blick, um immer neue Lagen freizugeben, neue Tiefe vorzugaukeln, wo immer gleiche Wirklichkeiten ihr dauerndes Dasein behaupteten, Von weit sah ich schon die Lichter des Busses zwischen den Tropfen glitzern, doch das urweltliche Grollen seines Motors hörte ich erst, als er vor mir hielt, und noch bevor ich einstieg, roch ich den sauren Dampf, in dem die Fahrgäste wieder saßen, aus Schweiß, feuchtem Stoff und Kampfersalben. 

Gedämpft die Blicke aus beschlagenen Scheiben, zu lose auf den Rümpfen befestigt die Köpfe beim holprigen Zug an Häusern vorbei, die alle ihre Bewohner schon früh hinausgespuckt hatten, um einen weiteren Tag damit zu verbringen darauf zu warten, daß das Leben in sie zurückkehre. 

Welches Leben, Helena? Welche Kette von einander widerwillig oder gern folgenden Tagen, Augenblicken, welches beständige Fließen wie aus Hähnen, welche tiefgründenden Strudel, die, wen sie einmal erfaßt haben, ihm nur mehr einen einzigen Blick, den in ihr Inneres, zum Punkt ihres Ursprungs schließlich (oder ist es ihr Ziel?), erlauben? Ist es, war es, wäre es auch das unsere geworden? Hätten wir die Unsicherheit, Bedürftigkeit, die fiebrige Leichtigkeit dessen, was wir wollten, was wir hofften, träumten, der vermeintlichen Sicherheit verkauft, daß der andere auch nicht zufriedener wäre als wir selbst, daß er auch zu kauen hätte an dem zähen Brocken, den der Morgen ihm unweigerlich in den Mund legte, so daß er erst frei reden würde können, wenn der Klumpen zerkaut und geschluckt wäre - und dazu würde kein Tag und keine Nacht je ausreichen: jeden Morgen ein neuer Brocken zu den Resten des alten gestopft, größer und schwerer gemacht noch von dem Gefühl der Schuld, es wieder nicht geschafft zu haben oder nicht wie Demosthenes den Mund voller Steine gegen das Toben des Windes und der Brandung angeredet zu haben - wäre es das geworden? Dann wäre es wohl nicht mehr lange gegangen mit uns - zumindest hoffe ich, daß uns dann, wenn schon nicht meine Einsicht, so doch deine Weigerung, Kompromisse zu Ungunsten des Lebens zu schließen, vor dem langsamen Hinüberdämmern bewahrt hätte. Oder hätte ein Sturm, ein Wind, wie er hier noch nie eingefallen ist und darum noch keinen Namen mit sich tragen muß, ein heißer Wind, der nach Wüste riecht und nach schwer duftenden Oasen, hätte der die Klammheit der unsicheren Nachtschatten aus uns vertrieben, uns leicht und frei gemacht, durcheinander, ineinander, miteinander zu leben, zu atmen, so leicht und frei, daß die Gegenwart des andern nie die Schwere angenommen hätte, die uns schmerzte, wie uns natürlich jede Gegenwart schmerzt, die wir zu verstehen glauben, ohne sie durch ihre eigenen Augen zu sehen. Unsere Augen den Gedanken des andern vorangesetzt - er müßte sich so sehen wie wir ihn, müßte der Wirkung seines Aussehens, seines Redens auf uns bewußt sein -, wir nennen sie dann gern Menschenkenntnis. 

Egal. 

Ist uns, wäre uns eine andere Gemeinsamkeit beschieden gewesen als die zweier erblindeter Greise, die Hand in Hand die Gassen ihres Dorfes zu durchstreifen meinen, an dessen Stelle doch schon längst ein Einkaufszentrum steht, und die sich an jeder Ecke von dem erzählen, der dort wohnt, ihn sogar grüßen, die sich die vertrauten Anblicke aus ihrer Erinnerung erzählen als das, was sie sehen, um dem andern die eigene Blindheit nicht eingestehen zu müssen: Stehen sie am Blumenladen, bemerkt der eine, daß die heimliche Geliebte des Pfarrers schon seit einer Woche keine Wäsche mehr im Garten aufhängt. Und der andere, um ja nur nicht den Eindruck zu erwecken, er sähe weniger, meldet befriedigt, daß auch die Fensterläden schon seit Sonntag ("genauer, seit dem Geläute nach der Messe...") geschlossen geblieben sind. Ob sie am Ende schwanger geworden ist und sich verstecken muß? Fragt sie dann die Blumenhändlerin, ob sie etwas Bestimmtes suchen, ein hübsches Gesteck für die Hochzeit der Enkelin vielleicht, zucken sie kurz zusammen und gehen eilig weiter, um die fremde bedrohliche Stimme, die von irgendwoher in ihre Bilder gedrungen ist, zu vertreiben. Wenn der andere bloß nichts bemerkt... 

An der Laderampe schwärmt einer von den jungen Mädchen, die im Fluß baden, der andere kichert, denn er kennt ein gutes Versteck im Ufergebüsch, und so könnte es lange weitergehen auf dem Weg den Strudel hinunter, der ungeduldig hupende Lieferwagen könnte sie nicht mehr zur Umkehr bewegen, sie wären ihrer Wirklichkeit sicher, ihrer Wahrheiten gewiß - sie müßten es sein! - zwei Leben unter vielen gleichen, unser Leben, Helena? Eine doppelte Angst: die, dem andern das eigene Unvermögen, die eigene Schwäche einzugestehen, und die, deswegen dann von ihm verlassen zu werden. Eine schlimme, nagende Angst; denn der andere lebt doch als letzter noch in der gleichen, vertrauten Welt, alle andern haben sich schon lange entfernt, sich ihre eigene Welt, ihren eigenen Greis gesucht, als einziger kennt er noch die Bilder und Klänge dieses besonderen Dorfes - oder tut zumindest so als ob. Soviel Angst, und dabei heimlich den andern für seine Schwäche verachten: das sind sie, die Ehen, die beständigen, die die Statistiken zählt, denn sie werden mit dem Schein um jeden Preis gewahrt - aus Angst. 

Egal. 

Ich mag ein Bein übers andere geschlagen haben oder mich auf dem Sitz zurechtgesetzt haben - schon blickten Augenpaare nach mir, voll Hoffnung, irgendeine, auch nur die geringste Abwechslung zu erhaschen: erwiderte ich den Blick? Sah ich die unermeßlich weite flache …dnis, in der die kleinste Unregelmäßigkeit im Landschaftsbild - sage ich: ein Stein, ein Strauch - bemerkenswert genug erscheint, sie eingehend zu betrachten, wenn auch im Wissen, daß sie sich als genau so belanglos erweisen wird wie alle anderen Unregelmäßigkeiten und Veränderungen vor ihr? Und dieses Schauen im Wissen um die Belanglosigkeit: Sah ich es, in alter Gewohnheit, die unscheinbaren, unbewegten Augenblicke, Vorfälle übersehen, hinter denen sich die echten, die unerwarteten Veränderungen, die großen Möglichkeiten verbargen - aus Langeweile, aus überdrüssiger Erwartung? Sah ich es ein Lächeln übergehen, eine ausgestreckte Hand? Wenn ich diese Blicke sah, so muß ich auch die gesehen haben, die voll des Vorwurfs waren, muß den Tadel angesehen haben, der den trifft, der ein ungeschriebenes Gesetz bricht, der etwas Heiliges stört: die Ruhe, die Erstarrung, die nur erträglich ist, wenn alle ihr verfallen sind und alle sie befolgen - ein kleines Ausscheren bedeutet schon Gefahr für die Verbleibenden, bedeutet, daß ihr Stillhalten nicht einem höheren, für alle gültigen Ratschluß entspringt, und ihnen somit irgendwie ein Grund dafür verloren geht - als ob sie einen bräuchten! 

Nein, das denn doch nicht! Die Neugier, die Hoffnung auf Abwechslung in der …de - sie ja, sie habe ich gesehen, und auch die Empörung, wenn dann das Neue nicht den Vorstellungen entsprach, wenn es am Ende gar wirklich neu war. Aber die giftig bösen Blicke für den Ruhestörer - nicht die für den Verletzer des Busfriedens, die gab es auch, doch entsprangen sie wohl eher der Enge des Raums -, für den, der nicht nur die hör- und sichtbare Ruhe stört, sondern auch die, die der wohligen Behäbigkeit erst ihr dämpfendes Bett bereitet, die bösen Blicke für den, der eine Unruhe erzeugt, die sich nicht einfach wieder legt, wenn er fort ist, die vielmehr nachhallt bis in die unbeobachteten Stunden hinein, die Wirkungen zeigt: diese Blicke mußte ich wohl woanders gesehen haben. Wenn auch, hier wie dort, die kleinste Bewegung schon Verdacht erregt, der kleinste Laut schon den Ruf nach Ruhe und Ordnung nach sich zieht: es muß wohl woanders gewesen sein. 
 

    Die Ursprünge des R. sind ungewiß. Empirische Forschungen an Haustieren und Ratten haben die Entstehung eines institutionalisierten Verhaltensmusters auch dort nachgewiesen, wo nur ein scheinbarer Zusammenhang zwischen Handlung (z. B. dem Berühren eines bestimmten Punktes am Futtertrog oder einer bestimmten Bewegung [Konditionierung, s. dort]) und nachfolgender Belohnung (Fütterung) bestand. Bei keinem der untersuchten Tiere hielt sich aber das Verhaltensmuster im Sinne eines R., wenn es nicht im weiteren von den Versuchsleitern bestätigt, d. h. gefordert wurde (Pavlov et al.): Die Tiere "lernten" den richtigen Zusammenhang schnell, selbst dann, wenn mehrere verschiedene Aktionen, oder eine Kombination daraus, zum Ergebnis führten. Ebenso lernten sie sich auf wechselnde Versuchsanordnungen einzustellen. Es kann also bestenfalls von einer gewissen - je nach Betrachtungsweise aber unterschiedlich ausgeprägten - stammesgeschichtlich-genetischen Prädisposition zur Bildung von konditionierten Verhaltensmustern (und in weiterer Folge zur Institutionalisierung als R.) gesprochen werden. Hier sind dann auch die in der Literatur ausführlich beschriebenen Paarungs-, Hierarchie- und sonstigen Rituale zu nennen, die den menschlichen auf den ersten Blick ähneln. Nicht übersehen darf dabei aber werden, daß sie immer in unmittelbarem Bezug zum zu erreichenden Ergebnis stehen und meistens nur in körperlicher Gegenwart des zu beeinflussenden Gegenübers abgehalten werden. Auch handelt es sich fast ausschließlich um Individualrituale, d. h. sie werden nur von einem oder von zwei Individuen in direkter Kommunikation ausgeführt. 
Fast alle saßen wir in Fahrtrichtung, nur wenige dagegen. Früher hatte ich mich noch gefragt - manchmal, wenn alle andern Fragen noch nicht gestellt werden wollten oder sich schon scheinbar beantwortet zurückgezogen hatten, je nach Tageszeit - früher hatte ich mich gefragt, ob sie es wohl mit Absicht täten: sich so oder so zu setzen. Besonders die sich gegen die Fahrtrichtung wandten, hatten meine Neugier erregt: Hatte es sich einfach so ergeben, oder stand da Überlegung dahinter - eine besondere Vorliebe etwa, oder hatte es hinten im Bus etwas Besonderes zu sehen gegeben (ein küssendes Paar, eine hübsche Frau, ein besonders häßliches Gesicht?), das betrachtet werden mußte? Oder war es ein gewisses Gefühl der Rebellion, das Gefühl, daß die andern etwas Dummes taten, dem man sich siegesgewiß widersetzte - selbst wenn man lieber in Fahrtrichtung gesessen wäre? 
 
    Kollektive R. sind im Tierreich selten, und dort, wo sie auftreten - etwa bei besonders hoch zivilisierten Tieren wie Ameisen und Bienen -, sind sie im Sinne der Definition keine solchen, sondern schlicht Ausdruck der kollektiven Organisationsform, d. h. es handelt sich um von mehreren Individuen gemeinsam verrichtete Arbeiten mit meist strenger Aufgabenteilung, die sich in ihrer starren Zweckbindung jedoch der beliebigen Wiederholung entziehen.  

    Es scheint sich also beim R., wie es hier beschrieben wird, um eine Erscheinungsform zu handeln, die - wie so vieles andere auch - in der anthropologischen Betrachtung der Evolutionsketten mit dem ersten Glied nach dem "missing link" originär auftritt, scheinbar ohne Notwendigkeit, ohne biologisch relevanten Auslöser (wie, noch einmal, so vieles). Die erweiterte Hirnkapazität bei gleichzeitiger Übernahme lebenswichtiger Funktionen (Nahrungssuche, Wachsamkeit gegen Feinde etc.) durch das zivilisierte Kollektiv und der daraus sich ergebende Leistungsüberschuß, den viele Quellen als eigentliches Wesensmerkmal des Übergangs zum homo sapiens nennen, erscheint als gute und - wie es allgemein gültigen Erkenntnissen eigen ist - vage und unbefriedigende Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen des Rituals. Ergiebiger wäre hier eine (wenn auch rein empirische, nur analoge Schlüsse erlaubende) psychologische Feinuntersuchung an indigenen Völkern (oder Stämmen) in nach unserem Kulturverständnis "unzivilisierten" Lebensräumen, die weit über die Grenzen des religiösen Formalismus hinausreichende Einblicke in die emotionalen Gehalte der R. erlaubten. But alas! Solche Untersuchungen fehlen, und angesichts der sich in endlosen Beschreibungen von (übernommenen, äußerlichen!!) Formen und Überlieferungen erschöpfenden universitären Ethnologie besteht wenig Hoffnung, daß sie in nächster Zeit durchgeführt werden könnten (nur schon wenn man beobachtet, mit welcher Vehemenz hier bestimmte Positionen und Theorien verteidigt werden). Bedenkt man die Möglichkeiten, die sich aus einer psychologischen statt rein archäologischen Annäherung an den berühmten Trennstrich zwischen Menschen und Affen - eben das missing link - ergäben, ein geradezu ungeheuerlicher Sündenfall der Wissenschaft. 

Egal. 

Mit jeder Bewegung, jedem Blick verdichtet sich die Atmosphäre im Bus, und jeder neu Einsteigende mehrt noch die Dichte, bis die engen Straßen, die durchgehenden Häuserwände der Stadt erreicht sind und die Spannung sich, wenn die ersten aussteigen, zu lösen beginnt, schließlich in eine peinlich joviale Gemeinsamkeit umschlägt, die jeden zum wohlwollenden Gastgeber auf dieser Vorstadtlinie macht - froh, sich nicht der eigenartigen Gedanken schämen zu müssen, die ihn - er weiß selber nicht wie - in der letzten halben Stunde Schritt für Schritt weiter in eine unbekannte wohlvertraute Richtung gezogen haben: als wäre er Teil eines Spiels, dessen Regeln erst nach dem Schlußpfiff erklärt werden. Immer ein Auge auf den Nebenmann werfen (kennt der mehr als er selbst von Ziel und Art des Spiels, ist er gar der einzige Uneingeweihte?), stets stark und entschieden die Richtung verfolgen (welche?! welche bloß? die, die alle nehmen, sind sie in der gleichen Mannschaft? gibt es überhaupt Mannschaften? die entgegengesetzte? lieber gar keine als die falsche!), und nie zugeben, daß er nicht weiß, wohin. Zur Not den vorgezeichneten Weg gehen (in welcher Mannschaft ist der andere, wieviel kann er ihm anvertrauen?) - das kostet Kraft, da bleibt nicht viel übrig, aber gerannt werden muß, soviel scheint klar. Oder ist es ein gigantisch angelegter Tanz, dessen Choreographie sich ständig ändert, immer undurchschaubar bleibt? Immer in Bewegung, immer ein Ziel vor Augen, ohne es zu kennen, bloß nicht innehalten mitten in dem Ziehen und Drängen und Stoßen von allen Seiten, bloß nicht über die Schulter sehen (der böse Mann geht um), rennen, rennen, selber ziehen, drängen, stoßen: bloß nicht stehenbleiben. Und, seltsam, darin sind sich alle einig: stehenbleiben darf keiner. Wer es dennoch tut, oder wer fällt und nicht mehr aufstehen kann oder will, den trifft die ganze Verachtung der herumlaufenden Sportler. Die meisten laufen weiter, ihrem eisernen Gesetz gehorchend, ein paar Mitleidige werden langsamer werden, doch bevor sie den Liegenden erreichen sind die anderen bei ihm, und mit schweren Stiefeln treten sie auf ihn ein. Mit starrem unbarmherzigem Blick stürzen sich die auf ihn, die in ihrem aufgeregten Hetzen den Anblick der Stille nicht ertragen. Und sie wissen, warum sie sie fürchten. In ihren Augen steht die Erinnerung an die Augenblicke geschrieben, da die Bewegung, der schnelle Tanz aus irgendeinem Grund langsamer wurde, da sie selbst sich am Rand der Tanzfläche wiederfanden, wo die müßigen und die alten Paare ihre Vergangenheit in den Armen hielten, wo die Musik leiser, um ein paar Ecken herum ihre treibende Kraft zu verlieren begann und mit den übrigen Geräuschen zu einer undurchdringlichen Wand verschmolz. Plötzlich wurden die Bewegungen eckig, ihres Zusammenhangs beaubt, bewußt - und die Schritte damit unsicher. Plötzlich begannen sie sich selbst zu sehen, wie von außen, begannen die Menge zu ahnen, die um sie war, namenlos, von ihnen selbst nicht zu unterscheiden, die gestern dagewesen war und vorgestern, die hüpfend walzend Nacht für Nacht für die einzige gehalten hatte, immer gleich mit immer andern Gesichtern und Geschichten, der namenlos andere gefolgt waren und weiter folgen würden - sie begannen langsamer zu werden, um sich zu blicken, schon nahmen die Namenlosen Gestalt an, standen vor einem unscharfen Hintergrund erste Gesichter still, aus denen sie erstaunte Augen ansahen (mitleidig? was berechtigte das Mitleid dieser Augen? was wußten sie vom Ziel? von ihm?), schon begannen sie zu sinken aus der glücklichen Schwerelosigkeit, rundum rundum rundherum, der Reigen dreht sich, und fanden sich wieder bei den verschwitzten Hälsen, an denen kratzende Festtagskrägen scheuern, bei den heimlich am Bund gelüfteten Nylonstrumpfhosen, deren säuerlicher Dampf sich unter Trachtenschürzen fängt, vorbei die Glückseligkeit, die nur die eigene Bewegung kannte, die sich selbst genug war, solange sie sich nicht selbst sehen mußte - kurz für kurz, einen Moment lang hellsichtig in einer ersterbenden Drehung, sahen sie, was ihnen bewegt entgangen war: sich selbst. Und das namenlose, immer wiederkehrende Gesicht war ihr eigenes gewesen, war das aller anderen gewesen - da packte sie eine entsetzliche Angst, ein eiskaltes brennendes Entsetzen fing an, sie lahm werden zu lassen, ihre Beine wogen schwer, wollten schon den nächsten Schritt verweigern, ihr Blick wurde starr, konnte sich nicht mehr lösen von der nackten Glühbirne, die, scheinbar unbemerkt, über den wogenden Köpfen der Menge hing, immer heller brannte sie in ihre Augen, je länger sie hinsahen, immer näher kam das gleißende Licht, von irgendwoher traf sie ein kalter Lufthauch, als ob jemand der Winternacht ein Fenster geöffnet hätte irgendwo in einem der Säle... da rissen sie sich los. Drängten, zogen, schoben sich durch die Menge, zurück dorthin, wo schneller getanzt wurde, wo die Musik so laut war, daß sie die leisen kleinen bohrenden Gedanken ertränkte. Und dort blieben sie, um jeden Preis, vorsichtig, unauffällig darauf bedacht, ja nie mehr an den Rand zu kommen, in panischer Angst vor der Stille, die sie dort vermuten. Sie tanzen, ja, aber nicht mehr glücklich, zum Vergnügen, sie können sich der Musik, den treibenden Rhythmen nicht mehr hingeben: zu sehr müssen sie darauf achten, wohin sie getrieben werden könnten, zu sehr ihre Schritte im Zaum halten und in ständiger Bewegung zugleich, um ja nicht aufzufallen (sie ertragen keine eingehenden Blicke mehr: es hieße Aufmerksamkeit, hieße innehalten), und stets in der Mitte zu bleiben, wo am meisten Tänzer sind - nur dort, wo alle sind und alle die gleichen Schritte machen, fühlen sie sich einigermaßen sicher. 

Unsichere, scheue Blicke werfen sie hie und da heimlich zum Rand hinüber, und je mehr sie auf ihre Schritte achten müssen, je mehr ihnen die Freude an dem Tanz vergeht, desto größer wird ihr Haß auf die da draußen, die, scheinbar unberührt von der Angst der andern, scheinbar schwerelos ihre Runden durch ruhigere Räume ziehen, der Enge, der Hitze entrückt, und der Vorsciht, des kontrollierten Maßes nicht bedürfen: Der Takt, nach dem sie sich bewegen, ihr Rhythmus ist ein anderer - ihr eigener. Und die in der Mitte hassen den Rhythmus der andern, denn er würde, wo er auf den ihren, den der Menge trifft, ihn auflösen: wo Bewegung gegen Bewegung stößt, entsteht irgendwann, an dem Punkt, da die stärkere eben die Oberhand gewinnt, ein Augenblick, da beide stillstehen, und sie hassen die Angst vor diesem Stillstehen, hassen die Angst, die es ihnen gemacht hat, damals... da reißt der nächste Takt sie herum, und sie müssen Schritt halten mit der Musik, die sie im Inneren auch schon zu hassen beginnen: eine polyphone Polka, zu zweit im Reigen zu tanzen, der sich auch ein Einzelner nicht entziehen kann und wie von selbst in ihre Reihen eingeordnet wird. Dann sehen sie einen, der sich nicht bewegt, einen, den der Rhythmus nicht mehr vor sich herjagt, und in ihren Augen springt eine dunkle blutrote Flamme auf. 

Dann hat der Bus das Zentrum erreicht, drängt sich Körper an Körper im Gang zum Ausstieg: starre Leiber halten Aktenkoffer vor sich, gestärkte weiße Blusen verwehren Berührungen, unruhiges Zucken der Schultern, Rücken, die steif und hart werden. Schirme, die von einer Hand in die andere gelegt werden, die den Regen nicht erwarten können - verzweifelt den Hals vor Angst wie angeschwollen, schiebt der Schüler mit jedem kleinen Schritt eine Hand weiter vor, bis sie scheinbar unvermittelt den Hintern des Mädchens vor ihm berührt (wieviele Träume haben diesen Augenblick vorweggenommen, wieviele heimliche, einsame Bilder?). Es hat von hinten jemand gerempelt, entschuldige: er hält ihrem flammenden Blick stand. Doch dann nimmt er die Hand nicht weg, er schiebt sie weiter, noch weiter vor, nach unten, er verstärkt den Druck. Und er spürt den rauhen Stoff ihrer Hose unter seinen Fingern, spürt die Wärme, die unter ihm gespeichert liegt, spürt die heiße Feuchtigkeit des Gewebes seine Fingerspitzen, seine Handfläche gefangennehmen; er denkt nicht an den Regen, an die schwüle gestaute Luft im Bus, er spürt nur mehr diese glühende feuchte Hitze auf seiner Hand. 

Das Mädchen sieht ihm voll ins Gesicht und weicht keinen Schritt. 

Langsam, ganz langsam bewegt er sich, als ob er in Trance wäre, eine plötzliche Bewegung den Zauber zerstören könnte, sein Blick ist starr, sein Gesicht glänzt unter der kleinen Neonlampe (wie schwarz der Raum zwischen den Körpern ist) - Schweiß steht auf seiner Stirn: er hat Angst. Doch gleichzeitig drängt es ihn vorwärts, drängt etwas in seinen Hüften, und er schiebt sein Becken vor, Millimeter für Millimeter, Atemzug für Atemzug, und jeder Augenblick dauert ein Jahr, ein Jahr und einen Tag lang schreit er seine Anspannung in sich hinein, schreit er seine Angst und seine Unsicherheit nieder, schreit er jeden belustigten Mutterblick, jedes wissend verstehende Vaterwort, jeden Blick aus rasch niedergeschlagenen Augen auf dem Schulhof, jeden Blick unter beiläufig verrutschte Röcke schreit er hinaus, jede allein gefundene Erlösung von dem Feuer legt er hinein in diese unendlich weiten Millimeter, die ihn noch von ihrem Körper trennen, um sie dort dann zu zerquetschen. Denn das Feuer war immer wieder gekommen, jedes Mal stärker als zuvor, hatte ihn nicht schlafen lassen und aufgeregt durch seine Tage getrieben; es schien ihm sogar, als hätten sich die Farben, die früher so hell und harmlos geleuchtet hatten, verändert, wären irgendwie dunkler, roher, gefährlicher geworden - wenn er jetzt aus dem Fenster sah, schmerzte das fette, saftige Grün des Rasens, und das flammende Rot der Bäume erinnerte nicht mehr an ausgelassene Spiele in den Laubhäufen - jetzt leuchtete nur mehr dieser ungeheure Brand, sein Feuer, und wurde von Tag zu Tag ungeheurer. In dem Augenblick berühren sie sich, ganz leicht, aber genug, daß er zusammenfährt (hat sie nicht auch gezuckt, ganz wenig nur, die Haltung des Kopfes verändert? Sie weicht nicht aus!), jetzt, jetzt endlich wird etwas wahr, er spürt jemand anderen, spürt einen fremden Körper - und wie fremd er ihm erscheint! fremd und angsteinflößend und doch kann er nicht anders, muß er ihn spüren, ihm nachdrängen! -, und er spürt, je fester er nach vorne drückt, wieder ihre Wärme, spürt die Weichheit ihres Hinterns und zugleich seine Festigkeit, schiebt weiter, ob sie ihn jetzt erlösen wird, endlich befreien aus dem ständig steigenden Fieber der letzten Jahre? Hier und jetzt, es wäre ihm egal - da legt sie ihren Kopf zurück, und er reißt die Augen auf, starrt auf die unter seinem Gesicht sich wiegenden langen weichen Haare (nach Rauch riechen sie und Seife und nach einer Blume, die er nicht kennt - dunkle Palastgemächer, durchflutet vom schweren Glanz des Goldes und einem schweren feinen Duft, den die braunen Mädchen gierig einsaugen, wenn die Sonne warme Flecken auf ihre nackte Haut zeichnet), reißt in ungläubigem Staunen die Augen auf, denn er spürt, wie unten etwas den Druck seiner Hand, das Drängen seines Körpers erwidert. Sein Gesicht brennt, er wagt nicht zu atmen. Sie bewegt sich, und in seinem Bauch beginnt es zu ziehen, hierhin, dann dorthin, in die Brust hinauf, sein Atem stockt, es breitet sich aus, fließt hinunter ins Becken, in die Knochen, immer weiter hinunter, es erreicht den Punkt zwischen seinen Beinen, von dem der Drang ausgeht, und bleibt dort aufgeregt stehen - doch nur, um Kraft zu sammeln, von oben kommt immer mehr nach, es schwillt an, wird immer größer, immer unruhiger, ihr Haar riecht nach Seife und Schweiß, nach Regen und feuchten Höhlen im Wald, seine Muskeln beginnen sich zu spannen, werden härter, ermeint, alles müßte jetzt an ihm abprallen, nichts und niemand könnte ihn jetzt auch nur ein Jota bewegen, so stark uns schwer fühlt er sich, ihr Haar riecht nach Heu, der Stoff ihrer Jeans ist feucht und straff über ihre Schenkel gespannt, siene Finger gleiten an ihr ab, es wird stärker, immer stärker, sein Nacken schmerzt, jetzt, gleich muß es ausbrechen, er wagt nciht sie anzusehen, ihre Haare... ihre Haare vor seinem Gesicht - wer ist sie? wildes Tier, heißer schwüler Wind? das Mädchen aus seiner Klasse: wer ist sie wirklich? - seine Nasenflügel zittern, da zieht es sich zusammen, Tier vor dem Sprung, ein Schmerz, als ob er weinen müßte, in ihr, in dir... will ich sein - da springen die Türen auf, und ein Schwall von Fahrgästen ergießt sich auf den Gehsteig, zwei Schritte schnell bis zur Hauswand, staut sich dort und fließt ihr schließlich in alle Richtungen entlang davon. 

Hinter ihnen schließt der Regen unbeirrt die Lücken, die sie mit ihren Körpern in die Luft gerissen haben. 

Wer hier sitzenblieb oder gar einstieg, war kein ernstzunehmender Mitfahrer, das Ziel seiner Fahrt lag jenseits der Grenze, die den Bezirk der Wirklichkeit, des in Arbeit Meßbaren, von dem wüsten Bereich des Privaten trennte: hier draußen, nachdem die Innenstadt durchfahren war, konnte nichts mehr passieren, was von Bedeutung war. Alte Leute, schwänzende Schüler und frühmorgens schon übermüdet eingeschlafene Arbeiter zählten nicht zu denen, die die Aufmerksamkeit eines verdienten, der rechtschaffen das Rad der Welt weiterdrehte... 

Aber auch daran werde ich nicht gedacht haben, als ich hinter der Gruppe von Mädchen herging, der schmal und gebeugt, und doch bestimmt, ein Junge folgte, die Augen verloren auf eine aus der Gruppe gerichtet, die verstohlen unter der Schultasche über eine bestimmte Stelle strich - diese Gedanken hatten an diesem Morgen keine Bleibe in mir gefunden; sie mußten woanders auf mich warten. 

Als ich über eine Kreuzung ging, fuhr wenige Meter vor mir ein silberner Sportwagen mit quietschenden Reifen an und raste in aufschießenden Wasserfontänen davon. Hatte ich, von hinten, einen ergrauten Kopf und eine schwarze Lockenflut über den Sitzlehnen gesehen? Ich lächelte bei dem Gedanken, daß ich, von panischer Unruhe erfaßt, durch die Stadt irren und hinter jeder unklaren Bewegung, jeder flüchtigen Gestalt Helena vermuten könnte. Zerzauste Haare, unrasiertes Kinn (die hatte ich auch sonst), die Hände tief in den Manteltaschen, den Kragen hochgestellt: hallende Schritte in verlassenen Sackgassen bei Morgengrauen, wenig Licht in den unruhigen Pfützen, den Blick auf die Spitze der ersäuften Zigarette im Mundwinkel gesenkt - der Einsame geht zwischen den Trümmern seiner Hoffnungen; ihm ist es egal, daß um ihn her nichts kaputt ist, die heile Straße nicht in sein Bild passen will, er braucht die Trümmer, braucht das Gefühl, auf einem unübersehbaren Feld etwas zu suchen, das er nur vage zu beschreiben wüßte. Er ist so müde, daß er ernsthaft glaubt, daß es - was? wer? - gerade hier, zwischen Mülltonnen und Hintertüren, plötzlich vor ihm stehen könnte, beiläufig an eine Wand gelehnt, als warte es auf ihn, habe immer schon auf ihn gewartet, wissend, daß er hier vorbeikommen würde. Darum sucht er auch nicht mehr, eine Suche wäre zwecklos, ihm geht es um das Gefühl des Verlorenhabens, das nicht von selbst ein Finden nach sich zieht, das sich nicht mit dem Nächstbesten zufriedengibt und es gegen das tauscht, was doch nicht zu finden ist - unmöglich zu sagen, was es ist. Die Autos, denen er sich nähert, fahren mit panischer Beschleunigung davon. 

Ja, da lächelte ich dem breiten Heck des Sportwagens nach und dachte, daß es wohl möglich wäre, daß Helena und der Alte darin säßen, und daß es völlig egal war, ob ich sie gesehen hatte oder nicht. 

An der nächsten Kreuzung sprang mich der Gedanke an, daß sie gewartet hätten, bis ich sie sehen konnte, daß sie sich mit Absicht dorthin gestellt hatten - Helena kannte wohl den Weg, auf dem ich jeden Morgen in die eine, am Abend in die andere Richtung ging. 

Sie kannte viele meiner Wege, vielleicht alle. 

Wozu hätten sie es getan, warum hätten sie mich auf sich aufmerksam machen müssen? Ein geparktes Auto am Straßenrand wäre mir nicht aufgefallen. Da wäre dann Überlegung dahintergestanden, hätte sie mir wohl etwas sagen wollen. Sollte ich sie bermerken und die Polizei rufen, sie aus der Entführung befreien? Oder wollte sie mir zeigen, wie schnell sie ohne mich wie weit gekommen war - wir hatten immer nur gebrauchte Autos gefahren -, wie sehr sie mit ihrem Schicksal einverstanden war? Oder beides? Ich glaube, ich lächelte nicht mehr, als ich die schwere Türe aufmachte, hinter der die Lokalzeitung sich versteckt hatte. 

Der Telefonistin am Empfang meldete ich sofort an, daß ich einige Telefongespräche zu führen hätte, und sie nickte verständnisvoll. Ich sah ihr Erstaunen, sah, wie sie mit jedem Nicken sicherer wurde, daß meine Stellung im Betrieb keine solchen Gespräche erforderte, und empfand zum ersten Mal mehr Ekel als Scheu vor der seltsam vernünftigen Macht, die ihr solche Überlegungen diktierte. 
 
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