Wanderer wer?  

Ein blasses Gesicht, über das Wasser rinnt, Algenfäden im Haar, ferne, beinahe ertrunkene Augen, die in stummer Traurigkeit nach etwas rufen, das keiner kennt. Langgezogene dumpfe Laute, die keiner je hört. Und auf der andern Seite, jenseits der spiegelnden Oberfläche, an einem Ufer vielleicht, einer, der in den Fluß starrt, sich die ausgedörrten Augen ausschaut und ein Gesicht sieht. Natürlich sieht er Augen, Stirn, sieht er Haare und Schläfen, er formt mit den Lippen ein Wort, das er in das Wasser unter sich hineinsagen könnte, ein geheimes Wort - und natürlich hält er das Gesicht, das er sieht, für sein eigenes. Verloren und winzig steht seine gebeugte Gestalt an dem riesigen Strom, von dem er nur den äußersten Rand erreicht; ein gewaltiger dunkler Himmel wirft bizarre Spiegelbilder zur Erde hinunter, wo sie ungesehen mit dem Wasser weitertreiben - und einer, der zaghaft am Ufer hin- und hergeht und etwas sucht. Was weiß er von den Wolkentürmen, von den hier und dort durchbrechenden Sonnenfeuern - er weiß nicht einmal, was zu suchen er gekommen ist. Irgend etwas wohl, das er einmal hatte, das er warm und lebendig an seiner Haut gespürt hat und das jetzt irgendwo dort draußen in dem glitzernden Wasserband vergraben liegt, hinausgeworfen mit einer unachtsamen Hand, gleichgültigen Augen aus dem Blick verschwunden, als sie gerade woanders hinsahen. Aber ist es dieser Fluß, ist es dieser Himmel? Er weiß es nicht mehr. Nur diese Wärme spürt er, die Stelle an ihm, die sich jetzt kälter anfühlt als der Rest. Und irgendwie hat er ein Gefühl, als müsse er dem Fluß diese Stelle zeigen, die nackte Leere, und der würde ein Einsehen haben, würde das, was er verloren hat, wieder freigeben, würde den Deckel seines feuchten kalten Grabes öffnen und gehen lassen, was ein Bruchteil eines unaufmerksamen Augenblicks in seinen Besitz gebracht hat. Also versucht er mit Worten zu beschreiben, was er mit den Händen nicht tasten, mit den Augen nicht sehen kann. Es scheint, als kennte seine Zunge allein den Punkt, an dem sein Schmerz sitzt, und mit seinen Lippen versucht er ihn in das Wasser zu zeichnen, um Gnade zu erbitten - doch ob er mit seiner Bitte, seinem Fordern an den richtigen Ort gekommen ist, weiß er nicht.  

Geschlossen die Wolken, gefangen die suchenden Blicke, und nichts dazwischen, das einen Lichtstrahl versprach, der das Wasser erhellt hätte, ohne an seiner Oberfläche zu scheitern und zurückzuspringen.  

Der Regen war dichter geworden, nicht wahr? Mit beständiger Hartnäckigkeit platzten die Tropfen an meiner Stirn, einer, noch einer, immer wieder noch einer, und jeden meiner Schritte begleiteten die leichten, gleichgültigen Schläge auf den Kopf, ins Gesicht.  

Regengottesdienste, Regenbruderschaften, entsetzte Zeitungsseiten voller Opferrituale, junge Frauen, junge Männer, der Schule noch nicht entwachsen, die plötzlich verschwanden - war es dieser Fluß, war es dieser Himmel, unter dem ich suchen mußte? Wozu das hektische Rennen unter diesem unbarmherzigen Wasser, das seine Verachtung auf mich heruntergoß, wozu das angstvolle Spähen aus schmerzenden Augen in die Vorhöfe, Hinterhöfe, die grauen Straßen hinunter, die das Viertel durchzogen - wozu hier suchen, wo es doch überall passieren konnte, gerade jetzt: die blinde erregte Jungfrau in ihren engen Fesseln, die sich ohnmächtig an den Schnüren reibt - und war sie nicht mehr Jungfrau, und mochte sie sich noch so sehr erregen über das, was sie sah, so war sie doch wehrlos genug, um als Opfer zu dienen, einem perversen Gott zum Fraß vorgeworfen zu werden, sein bärtiges, wäßriges Gesicht zufriedenzustellen. Umstellt von zwölf oder zwanzig oder zwanzigtausend dunklen Gestalten liegt sie in der Mitte des Kreises auf dem Boden. Millionen von Tropfen glitzern auf ihrer glatten Haut. Die Gestalten ringsum murmeln irgendwelche unverständlichen Sätze in die Tiefen ihrer Kutten hinein - Beschwörungsformel, rhythmische Monotonie, die eindringt. Sie spüren es, und ihr Opfer in der Mitte spürt es, sie werden unruhig, müssen die Beine fest in den Boden rammen, sie wölbt den Rücken, das Becken vor, preßt die Schenkel zusammen. Das Summen der Opfergesänge versetzt alle in Schwingung, langsam wird der Kreis enger, er zieht sich zusammen, Bein an Bein wird die Mauer dichter; unter den dicken schwarzen Gewändern bricht der Schweiß aus; der Atem geht stoßweise zwischen den geheimen Worten, die Hände flattern hektisch in den Falten, näher und näher kommen sie, und sie sieht Männergesichter und Frauengesichter unter den breiten Hüten glühen, sie windet sich unter den aufgeregten Blicken, ihr Körper zuckt nach oben, zur Seite, dann sind sie über ihr... und der Regen wäscht ihr Gesicht von den Schlammspritzern, schwarze kleine Blumen, die aus ihrer weißen schönen Haut sprießen.  

Und dann beginnt einer zu singen.  

Tiefe langgezogene Töne, geformt von einer alten Stimme, die erst wieder ihre Beherrschung finden muß. Andere fallen ein, langsam, einer nach dem andern, lauter. Und in das anschwellende Brummen hinein springen die Frauen von dem Platz im Kreis hoch, werfen ihre spitzen Stimmen in die Luft, den tiefhängenden Wolken entgegen, die ihre ganze Wut, ihre Verachtung auf sie herunterregnen. Blind, verständnislos, voll grauenvoller Hoffnung recken sie ihre Gesichter nach oben, Frauen, Männer, gerötete, atemlose Fratzen, und warten auf etwas, das jetzt passieren müßte... aber was? Ihr Gott dort oben hat keine Lust, sich ihnen zu zeigen - jedesmal ist es so, und jedesmal beschleicht sie, kurz nur, dieses grauenvolle Gefühl der Sinnlosigkeit, das Bewußtsein, egal, was sie tun, nie etwas zu erreichen, was haben sie schon alles getan, um den Regen zu besänftigen -, und sie sagen sich, daß sie noch mehr tun müssen und nehmen sich fürs nächste Mal vor, härter, besser zu sein.  

War es das, was ich finden würde, blind, sträflich blind einer Idee nachhastende Feiglinge, oder war es das, was ich suchte? Unter meinen Schuhen spritzte das Wasser auf, liegengebliebene Regentage, in denen sich ein wütender Himmel spiegelte, und hinter meinen Schritten füllten sich die achtlosen Pfützen wieder auf: lautlos. Ja, es mochte wohl so sein: Hinter mir floß alles wieder an seinen Platz zurück, der Regen tanzte wieder ungehindert auf den Straßen, und die Schatten besetzten gemächlich die Rückseiten der Gegenstände, der Häuser und Bäume, von denen ich sie mit meinen suchenden Blicken verjagt zu haben glaubte.  

Was für ein Glaube! Was für Blicke, die meinen, die Dunkelheit eines Tages zu durchdringen!  

Das laute Geschrei, mit dem wir uns umgeben, um die leisen unsicheren Noten zu übertönen, die wir irgendwo in uns gehört haben - wer hört hinter ihm schon die eigentliche Musik? Wer wollte schon die schöne Maske wegwerfen, um den Kern freizulegen, der sich dann vielleicht als zerschossenes, unzählige Male notdürftig geflicktes Versatzstück herausstellt?  

Egal.  

Wahrscheinlich würden wir die Blicke nicht ertragen, nicht die uns treffen und nicht die wir selber werfen, das Licht würde schmerzende Höhlen in unsere Augen graben, wenn wir sie offenhielten - sie sind die Dunkelheit gewöhnt, den weichen schwarzen Schleier, der von der Seite her vor das Bild gezogen wird, das Gefühl, selbst im Dunkeln zu stehen und dabei nicht beobachtet zu sein.  

Welche Ruhe.  

Über mein Gesicht rann das Wasser, zähflüssige Hände, die nach meinem Mund griffen, und als ich die Haare aus meiner Stirn wischte, mochte mit einem Mal das Gefühl hinter mir aufgesprungen sein, daß etwas passieren würde: daß ich auf meinem Weg zwischen Flucht und Angriff auf etwas zuging, das irgendwo da vorne auf mich wartete. Irgendwo...  

Habe ich aufgesehen, den entgegenfliegenden Tropfen zum Trotz? Habe ich die Gestalt gesehen, die eben noch um eine Ecke huschte, habe ich gesehen, wie sich ein Fenster vor meinem Blick mit einem kleinen vorsichtigen Ruck schloß? Die Häuser waren nähergekommen, und mit ihnen die drei riesigen Tannen. Eigentümlich klar traten sie jetzt aus der grauen Wand hervor, und die Schatten unter ihnen waren dunkler und undurchsichtiger denn je.  

Was meinst du: ob sie wirklich bis zum letzten gehen? Ob sie wirklich aus jeder Einbildung, jedem Zucken ihres aufgeregten mden Gehirns eine Wirklichkeit machen, ob sie jeden Gedanken, jedes Gefühl soweit treiben können, daß am Ende immer die Hand, die Faust oder das Messer antritt, um sie zu vollenden? Ob am Ende immer ein Wort steht, das recht hat, recht haben muß? Frag mich nicht um eine Antwort auf solche Fragen, du! Du mußt es besser wissen, du bist in ihre Fänge geraten, bist unter die gefallen, die aus ihrem Meinen, ihrem Glauben einen Dreckhaufen gemacht haben, aus dem sie jetzt nicht mehr heraussehen - klamm und blind wühlen sie sich durch ihren Hügel, und halten jeden morschen Stumpf, jedes faulige Büschel Gras für eine Erleuchtung. Und das Schlimme, weißt du, das Schlimme ist, daß ich nicht weiß, wer einer von ihnen ist, wer sie sind - nein, eigentlich, daß ich nicht weiß, wer keiner von ihnen ist: Sie gleichen sich alle so verdammt, das stämmige Wühlen ihrer Arme ist so sehr das selbe, daß ich nicht mehr sehe, wer seinen Haufen gerade verlassen hat und wer sich schon wieder voller Todesverachtung in den nächsten zu graben beginnt, schmatzend aufgetürmte Hügelketten Wellentäler, aus denen vielleicht hie und da einmal ein Fuß, eine Hand auftaucht. Ihre blinden Maulwurfsaugen starren alle gleich entsetzt in die Runde, wenn sie irgendwo ein Geräusch hören, das nicht in ihre Dunkelheit paßt - und sie glauben noch, etwas zu sehen! Ja doch, sie glauben... Wie die treuesten Anhänger einer eisernen Kirche glauben sie an ihre Wirklichkeit, die so verklärt und unheimlich um sie herum ausgebreitet ist, glauben sie daran, daß jeder andere sie auch erkennen müßte, ganz natürlich, von selbst - und wehe dem, der es nicht tut. Kein Abgrund tief genug für die, die in andern Häufen wühlen: Ja doch, sie glauben an das, was ihre Augen, ihr Hirn ihnen sagt von der Welt dort draußen hinter den letzten Bäumen, dort, wo die Steppe anfängt. Sie glauben, daß sie dich erschlagen mußten! Oder sie glauben, daß wenn sie deine Haarspitzen berühen, ihnen der Regen nichts anhaben kann, daß deine Zehennägel bei Vollmond heilende Kräfte entwickeln; sie glauben, daß es eine Ordnung gibt, der sie sich unterwerfen können, wenn ihnen die Orientierung in der viel zu flachen, viel zu großen Ebene verloren geht, sie glauben, daß du vom Kreuz steigen mußt, um sie vom Wasser zu erlösen, sie glauben... Ja, sie glauben es!  

Und was sie glauben, ist wirklich, muß wirklich sein, da sie es sonst selber nicht wären.  

Nicht wahr, der Regen war dichter geworden. Ich habe nicht gesehen, ob eines, zwei, zehn Augenpaare meinen Weg verfogten, ich habe nicht gesehen, daß vor mir, hinter mir geheime Zeichen von Häuserecke zu Häuserecke eilten, hinter einem Baumstamm hervor in ein offenes Fenster sprangen, wenn ich nicht hinsah - ich habe gar nichts gesehen.  

Ich kam wieder zu dem Schlachthaus. Die Fliegen waren lange schon weggespült worden, unbehelligt hingen die Leichenteile hinter den Glastüren, und nur der Regen schmeckte hier ein bißchen schwerer, ein bißchen süßer auf den Lippen als anderswo. Die Straße dahinter, die dicht an dicht still ausharrenden Randsteine lagen wie immer - natürlich. Sie waren gestern so gelegen, vorgestern, letzte Woche, und auch die Monate davor hatten keine Änderung gebracht - die Steine hatten sich nicht in die Tiere zurückverwandelt, die sie einmal gewesen waren, sie waren nicht irgendwann, vielleicht in einer besonders hellen Nacht, von ihren Plätzen aufgestanden und auf kurzen, etwas steifen Beinen davongegangen, zwischen den Büschen verschwunden. Nein, kein ewiger Rattenfänger hat ihnen gepfiffen. Ich weiß nicht mehr, warum, aber irgendwie fand ich es schade, irgendwie hätte ich sie gerne so wandern gesehen, hätte ihnen gerne einen Gruß zum Abschied nachgeschickt auf ihren unwahrscheinlichen Weg. Sie sahen aus, als ob sie lange genug gewartet hätten. All die Tage in all den Jahren, da ich über ihnen vorbeigegangen war - immer auf etwas zugegangen: die berechneten, abgeschrittenen Arbeitsstunden, die unvorhersehbaren, schmerzlichen oder schönen Stunden bei ihr - ja, ich glaube, sie haben lange genug gewartet.  

Haben sie alles gesehen? Haben sie die Traurigkeit gesehen, die eine offene Wunde nicht hatte heilen können und sie hinter sich hatte lassen müssen?  

Haben sie die verzweifelte Hoffnung gesehen, die, Schritt für Schritt schwankend, auf ein vertrautes, unheimliches Gesicht zuging - irgendwo dahinter, hinter diesen fragenden, abwehrenden Augen mußte doch die Wärme liegen, der warme trockene Wind, der nach Heu roch und nach Erde und der keine Grenzen kannte, von keiner kläglichen Markierung auf dem Boden aufzuhalten war, der durch die Ritzen noch der am festesten verschlossenen Türen drang... irgendwo... irgendwo dort hinter der Ecke des Schlachthauses mußte doch die Welt liegen, in der dieser Wind beiläufig wehte, die weite Steppe, die neben den Gefahren und Abgründen auch Orte der Ruhe barg... ein Busch, dessen Schatten sich über zwei müde, verschwitzte Gesichter legt, fette grüne Blätter, deren Saft die Schmerzen derer lindert, die sie kauen, das Licht des Mondes, das Gesichter und Gestalten auf die Körper der Schlafenden zeichnet... das Prasseln des Regens in den Bäumen...  

Ich war schon lange stehengeblieben, das Gesicht dem fallenden Wasser zugewandt. Und zum ersten Mal empfand ich es nicht als erdrückend, zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, daß man, daß ich der von oben herabstürzenden Endgültigkeit etwas entgegensetzen könnte, daß irgendwo in mir eine Stelle war, die dem sinnlosen Toben widerstehen konnte: ein Punkt, ein Gebiet, das ruhig und warm war und trocken, das sicher war, ohne daß es schützender Zäune bedurft hätte, ein verborgenes Tal, über das sich ein blauer Himmel spannte, der die drohenden Wolkentürme nicht kannte... irgendwo...  

Der Mantel hing schwer an meinen Schultern, schlappte naß an meinem Bein, und das Wasser begann in den Kragen zu sickern, sich auf meine Brust vorzutasten. Ich spürte die kalte Hand, die nach mir griff - nein, noch nicht! Noch konnte sie mich nicht finden, ich war auf meinem Weg noch nicht weit genug vorgedrungen, ihr noch nicht nahe genug gekommen. Aber ich wußte, daß sie wartete, irgendwo dort vorne, irgendwo... Langsam muß ich dann weitergegangen sein; langsam: wohin hätte ich mich beeilen sollen? Ein Schritt war so gut wie der andere - es waren wohl nicht die Füße, die mich dorthin bringen würden, wo ich hinwollte. Hinmußte?  

Da! Diesmal war ich ganz sicher. Neben der Hecke dort war eben noch eine Gestalt gestanden, undeutlich am Rand meiner Augen, eine dunkle Gestalt mit einem breiten schwarzen Hut. Als ich hinsah, war sie verschwunden, und nur mehr ein grauer Schatten schien an der Stelle zu hängen und fragend zu mir herüberzustarren - dann war auch er weg, vom Regen weggespült, auf den glänzenden Asphalt gewaschen.  

Was war hier los? Wo waren die Menschen geblieben? Selbst an den kältesten der Regentage hatte ich noch Menschen auf der Straße gesehen, wenigstens fahrende Autos, in denen ich Menschen vermuten konnte - aber heute? Nichts als flüchtge Gestalten, die sich unter meinem Blick aufzulösen schienen, flüchtig wie... wie unfertige Gedanken, die verschwanden, wenn man sich auf sie zu konzentrieren versuchte. Vögel, dachte ich, Vögel, die von ihrem Feld auffliegen, wenn sich einer nähert, und sich dann etwas weiter wieder niederlassen, mit alten Augen auf den einsamen Gänger schauen, Und auf dem Boden rasende Schatten, als ob Schwärme in panischer Flucht über den Himmel hetzten, aufgescheucht von welchem grauenvollen Klang, welchem Anblick? Doch der Himmel ist leer wie immer, selbst die Sonne hat sich davongestohlen, und nur ein milchig weißer Schimmer spannt sich von einem Horizont zum andern. Wer wirft diese Schatten, Wanderer, wer ist hinter dir her, daß du hier herumirrst? Wer zieht auf dieser Bühne die verborgenen Fäden?  

Mit ein paar Schritten war ich bei der Hecke, sah um die Ecke: nichts. Der Asphalt spritzte wie immer seine kleinen Fontänen hoch. War da wirklich jemand gewesen? Ja doch! Ich versuchte den Zweifel mit einer Handbewegung von meinem Gesicht zu wischen. Ritual. Ich versuchte dem Licht mit einer Handbewegung eine andere Bedeutung zu geben, versuchte wenigstens den Schatten wieder vom Boden aufstehen zu lassen, in den er zwei Schritte vor mir versunken war: nichts.  

Alles blieb, wie es war: Es blieben Wasser, Kalk, Phosphor und Kohlenstoff, wie sie waren, in immer wechselnder Zustandswahrscheinlichkeit, so, wie alle sie eben sehen konnten: die Welt. Nur schien jetzt mit einem Mal außer mir keiner da zu sein, sie zu sehen, keiner, der sich noch einen Deut darum geschert hätte, ob sie so war, wie sie nun einmal war - die Menschen waren geflüchtet (in ihre Häuser?), hatten sich aus den Zusammenhängen zurückgezogen, fortgestohlen aus dem regnerischen Netz von Licht und Schatten, das alles umfing. Der Rhythmus, in dem das Netz schwang, unter ihren eigenen Bewegungen schwang, war ihnen unheimlich geworden und sie hatten sich in ihre vertrauten Höhlen verkrochen; in denen konnten sie dann hocken und ihren leblosen Körpern zusehen, die hilflos durch ihr Leben stolperten, sich in dem Netz verfingen, sich losrissen, wieder hängenblieben, bis eine gnädige Erschöpfung ihnen die Kraft zum Weitergehen raubte und dann doch noch in die nasse Erde drückte, die sie so sehnlichst verweigern hatten wollen.  

Gefangen in den Schlupfwinkeln ihrer Sicherheit saßen sie und rühmten sich mit der Unmöglichkeit, daraus zu entkommen, prahlten mit der eigenen Unfähigkeit, die Türe zu öffnen und einfach hinauszugehen. Sie nennen es Charakter. Dieses Haus zu verlassen, in das sie Stück für Stück, unter Prügeln und und Umarmungen hineingeboren worden waren, in dem kein Zimmer wirklich bewohnt und die Gänge hell erleuchtet und geschmückt sind. Dieses Haus, das sie so gut kennen, daß sie bei jedem Schritt darin wissen, wohin er sie bringen wird, und daher erst gar nicht mehr zu gehen versuchen. Dieses Haus, diese Höhle, dieser Ballsaal, diese Lichtung im dichten Urwald, dieses... was? Was noch, Wanderer, sag es mir! Was noch?  

Ich mußte das Wasser zur Seite wischen, das, je länger ich stand, um so dichter in meine Augen rann; es fühlte sich seltsam warm an... hatte ich es bemerkt? Das Netz begann sich langsam zu drehen.  

"... dieses Leben" mag da eine Stimme aus der Luft geflüstert haben, aber ich weiß nicht mehr, ob ich sie noch hörte, nur, daß ich dann losging, als wäre mir mit einem Mal klargeworden, wo ich suchen mußte. Bestimmt ging ich der Hecke entlang bis zu der Seitenstraße, die rechts abbog, eilte um die Ecke und prallte zurück. Vor mir erhoben sich - natürlich, muß ich mir gesagt haben, natürlich, aber ich hatte sie vergessen gehabt, nicht erwartet - die drei Tannen, gespenstische Riesen aus einer anderen Zeit, fetzenbehangene Monsterskelette, griffen sie nach den Wolken, als wollten sie sie aufschlitzen, und rauschten unter dem auf sie einstürmenden Regenschwall.  

Und dort, unter den weit ausladenden Ästen im Halbdunkel sah ich sie: die Menschen. Dicht an dicht gedrängt standen sie, in dunkle Mäntel gehüllt die meisten, und ihre Gesichter leuchteten eigentümlich fremd und verloren aus den Schatten. Es mochten fünfzig sein, vielleicht hundert, und bei denen, die mir am nächsten standen, erkannte ich den einen oder andern von flüchtigen Straßenbegegnungen, von über eine Gartenmauer gewechselten Worten wieder - die Leute des Viertels, dachte ich mir: was tun sie hier? Keiner sah zu mir her, und keiner nahm von mir Notiz, als ich näherging - alle sahen in die selbe Richtung, auf einen gemeinsamen Punkt, der irgendwo jenseits der Wiese liegen mußte, irgendwo dort drüben, wo die Reihe der kleinen alten Häuser mit ihren kleinen Gärten lag, auch das unsere... was wollten sie hier?  

Da begann in dem Haufen jemand zu summen. Eine tiefe, fremde Melodie, und nach und nach fielen die anderen ein, Frauen und Männer in einem eintönigen Choral - Kirchenklangen da durch die Äste hinauf, hohe, unendlich hohe Fensterbögen, durch die nur wenig Licht nach innen sickerte, ein süßer, beißender Rauch in der Luft und verlorene Augen, die nach der kleinen Gestalt vorne starrten; deren zierliche, unsichere Bewegungen am Altar, den geschmückten Rücken gegen das hohe schlanke Kreuz gewandt, jede Regung im Gesicht des Priesters bemerkten sie... -, und der Choral vermischte sich mit den Rauschen des Regens, mit dem der Bäume zu einem eigentümlich kraftlosen Brausen, das in der Brust kribbelte, ein unerwartete warmes Rieseln... was war hier los?  

Ich trat unter die Bäume, schlug meinen schwarzen Mantel zurück und sah den Blicken der anderen nach.  

Was immer sie sahen, ich sah es nicht. Oder sahen sie nicht, was ich sah? Wie unter einem schützenden Dach standen sie unter den Ästen versammelt - der am weitesten draußen stand, war ich. Aber vielleicht war ich deshalb der einzige, der am Himmel - nicht über den Häusern allerdings, wo sie hinsahen, und das erstaunte mich, nicht über den Häusern, sondern am andern Ende der Wiese, dort etwa, wo das Waisenhaus stand - das Blitzen sah, das irgendwoher kam und zwischen den Wolkenschleiern herumtanzte, unschlüssig, ob es sich setzen sollte ... von oben... das Blitzen der Sonne, dachte ich; es schien, als könnten die Wolken jeden Moment aufreißen. Sahen sie denn nichts? Nein. Sie starrten alle zu den Häusern hinüber, in ihren Augen ein eigentümlich leerer Ausdruck, als habe sich das Licht in ihnen gefangen und finde nicht mehr heraus, sie starrten alle hinüber... zu unserem Haus!  

In diesem Augenblick mag sich eine Hand auf meine Schulter gelegt haben - kalte Finger, die wie versehentlich an meine Wange stießen - und mich fest niedergedrückt, meinen Blick auf das Fenster unseres Hauses gelenkt haben, den weiß schimmernden Umriß eines Menschen hinter dem Vorhang... einer Frau... Oder war es ein plötzlicher Gedanke, ein Gefühl, das in mir um sich zu schlagen begann und mich hinübergehen ließ, zuerst langsam, den Kopf gesenkt unter den wieder harten kalten Hieben des Wassers, dann schneller, noch schneller, bis ich zu laufen begann, den Blick auf etwas gerichtet, das über dem Dach zu schweben schien, etwas wie eine unscharfe Wolke, ein dunkleres Grau wie der Schatten eines riesigen Wesens, eine Stelle, die irgendwie dichter zu sein schien als die Umgebung...  
  
 Der Schlamm auf der Wiese hängte sich an meine Schuhe, zog mich zu sich hinunter - jeder Schritt fiel plötzlich schwer; schwerer, mag ich gedacht haben, schwerer, als es eigentlich anzunehmen gewesen wäre... Ein Fetzen Erinnerung: ich hatte das Gefühl, gegen einen starken Wind anzugehen, der mir dicht, beinahe undurchdringlich von vorne, wo die Häuser standen, entgegenblies. Habe ich hinter mir Stimmen gehört? Aufgeregt schreiende, nervös kreischende Stimmen? Vielleicht. Gab es etwas zu hören?  
 
 
 
 
 
 

 
 
 
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Den Garten werde ich schnell durchquert haben: er ist nicht groß. Ich sah ihn auch nicht, wollte ihn wohl nicht sehen, denn meine ganze Aufmerksamkeit gehörte dem Fenster und der dichten grauen Masse über dem Haus, diesem unwirklichen unheimlichen Turm, der jeden Augenblick zusammenzustürzen drohte, alles unter sich begraben konnte, was in seiner Nähe war.  

Mir scheint, ich habe mich noch einmal umgedreht, bevor ich die Türe öffnete - ein Blick zurück auf die undeutliche dunkle Menge Menschen unter den verhangenen Bäumen, ein Blick zurück auf im Regen verschwimmende Gesichter, helle Flecken, die sich aufmerksam herüberreckten wie... Da hörte ich die Stimme im Haus. Einen Moment nur zögerte ich - es mußte der Alte sein. Dieser salbungsvolle, getragene Ton, dieses tiefe Raunzen: das war er! Ich fuhr herum und wollte die Tür aufreißen, in die Wohnung stürmen, ich sah schon den Weg bis ins Wohnzimmer vor mir, hinter dessen Fenster ich die Gestalt gesehen hatte, sah die Ecke, den Schrank, die angelehnte Zimmertür, sah im Gegenlicht die Frau und den Mann am Fenster stehen, hinausschauen, ich sprang hin, riß die Frau an der Schulter herum und starrte in eine tote schwarze Maske, in der zwei rote Augen glühten... ich fuhr herum, wollte die Türe aufreißen, in die Wohnung stürmen und prallte fast mit Helena zusammen. Sie stand in der Haustür und starrte mich mit ihren großen dunklen Augen geradewegs an; sie schien erschrocken, als hätte sie jemand anderen erwartet. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, bevor noch das Wasser des Regens ganz aus meinen Augen gewichen war, packte sie mich bei der Hand und riß mich ins Haus, in den dunklen Gang. Ich hatte nicht gewußt, daß sie solche Kräfte gehabt hatte, vorher... Hinter mir flog die Türe krachend ins Schloß.  

Im selben Augenblick packte jemand von hinten meinen Kopf und sprang auf meinen Rücken, sehnige Beine schlangen sich um meine Hüften... der Alte! Jetzt wollte er mich beseitigen, dann könnte ihn keiner mehr aufhalten - sein Gewicht zog mich nach hinten, immer weiter, bog meinen Kopf in den Nacken, wölbte meinen Hals immer weiter nach vorne; die Muskeln an meinem Hals zogen sich unwillkürlich zusammen, ein kleines unkontollierbares Zucken, dort wo das Messer die Kehle durchtrennen würde, jetzt... "Helena!!" Ich hatte Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. "Weißt du denn nicht, was er vorhat?! Er wird dich genauso opfern, wie er die andern geopfert hat, er wird..."  

"Wie bitte?"  

"Ich sagte, er wird dich genauso schalchten wie die andern, er wartet nur darauf, daß ich nicht mehr im Weg bin, dann wird er dich denen da draußen vorführen und ..."  

"Die da draußen...?" Der Griff um meinen Kopf lockerte sich ein wenig, und ich versuchte ihn abzuschütteln. Er ließ so ruckartig los, daß ich nach vorne gegen die Truhe stolperte. Mein Kopf schlug gegen die Wand - dunkle farbige Kreise drängten aus dem Grund meiner Augen nach vorne, schlugen von innen an meine Augenlider, die sich schließen wollten, und drückten sie wieder auf. Und ich sah: die Wand. Die Struktur der Farbe, die Fäden über das Mauerwerk kroch. Und ich hörte: zwei bekannte Stimmen, die hinter meiner drohenden Dunkelheit aufgeregt miteinander sprachen.  

"Was wollen die da draußen?" Langsam wich der Druck aus meinem Kopf. Die Küche nahm langsam Gestalt an, die Gegenstände, von denen ich wußte, wo sie sein mußten, rutschten Stück für Stück dorthin zurück, wo ich sie erwartete. Das Licht kam zurück. Die Farben: schwach. Pastell.  

"Was wollen die von uns? Warum verfolgen sie uns?... jetzt sag schon was!" Die beiden sahen müde aus, müde und schwach und naß. Und sie hatten Angst.  

"Was ist hier eigentlich los", muß ich wohl gefragt haben: ich erinnere mich noch an den Klang der Worte in meinen Ohren, doch die Stimme erkenne ich nicht wieder; ein rauhes ersticktes Kratzen. "Was zum Henker ist hier los?"  

Sie sahen sich an, ihre Profile vor dem immer heller werdenden Fenster, vielleicht zuckte der Alte noch resigniert die Schultern, oder Helena seufzte, fast unhörbar: "Tja, ich weiß nicht..." Ihre Hand wischte wohl verborgen ein paar Brotkrümel von der Tischdecke. "Vielleicht eine Sekte...?" Sah sie mich an? "Sie haben uns bis hierher verfolgt... diese Gestalten... die schwarzen Mäntel, die Hüte..." Sie senkte den Blick.  

Was für ein Spiel, dachte ich wohl, was für ein mieses kleines peinliches Spiel - wenn es eines war. Mal sehen.  

"Was habt ihr denn? Ist doch gar nichts Außergewöhnliches. Da drüben fünfzig, vielleicht hundert Leute, die irgendwie aussehen als wollten sie etwas - hier drüben drei, die irgendwie aussehen, als hätten sie etwas damit zu tun... kein Grund zur Sorge, großer Meister..." Ich nickte kurz in Richtung des Alten. "... alles stofflich, nicht wahr? Alles eine Frage des unterschiedlichen Blickwinkels, ja...?" Er sah mich unverwandt an, sein Blick drohte meinen Augen, die immer noch schmerzten... Dann senkte er seinen Kopf ein wenig, langsam, nur ein kleines bißchen, ohne den Blick aus meinem Gesicht zu nehmen, bis ich glaubte, ganz unten an seinem Kinn, dort, wo es sich zur Brust neigte, den Anflug eines Lächlns entdeckt zu haben.  

"Du hast also gelernt..." sagte er leise, mit einer Stimme, die tiefer und wärmer war als ich sie erinnerte. Was konnte er schon wissen?!  

"Ja, ich habe gelernt. Gelernt zu warten und - allein zu sein!" Helena erwiderte meinen Blick ohne Schwierigkeiten, sogar mit einer gewissen Fröhlichkeit, wie mir schien.  

"... aber nicht allzu viel, wie mir scheinen will." sagte sie dann - oder war ich es? Hatte ich fertiggedacht, was er nicht sagen wollte?  

"Nein, ich glaube, er weiß mehr, als er zugibt... sieh mal, wie ruhig seine Hände sind. Ich glaube, wir haben einiges erreicht."  

"Meinst du?"  

"Aber ja doch."  

Ich hätte wahrscheinlich gute Lust gehabt, mit diesen meinen ruhigen Händen auf die beiden einzuschlagen, wie sie mich so verhandelten, als hätten sie einen Schüler zu beurteilen, meine Schultern spannten sich schon lange, drängten gegen etwas, das von oben auf mich herunterdückte - und mich damit auch zurückhielt. Irgend etwas hier paßte nicht zu der ganzen Geschichte, irgend etwas an ihrem Reden, ihrem Verhalten... wie Puppen, mag ich gedacht haben, wie Puppen, die vor der falschen Kulisse spielen, und keiner der Spieler bemerkt es, nur das Publikum...  

Genau besehen, war der Alte noch gar nicht so alt. Ich glaube, etwas bewegte sich, als ich mir vorzustellen versuchte, was die beiden in den letzten Tagen getan hatten. Etwas, das mich fortzog...  

"Wo wart ihr eigentlich? Ich meine..."  

"Nicht dort, wo du meinst!" Natürlich.  

Doch die Antwort war viel zu schnell gekommen, um wahr zu sein - "Natürlich", sagte ich. Und tatsächlich: Es blieb dabei.  

"Ich habe mich ein wenig umgesehen, ein paar Tage Ferien gemacht." Ihre Augen funkelten, etwas, irgend etwas Fremdes tanzte in ihnen, das ich bei ihr nicht kannte...war es ihr ernst?  

"Du warst in letzter Zeit ein wenig... na ja...müde, verstehst du? So weit weg."  

Wahrscheinlich habe ich genickt. Wahrscheinlich verstand ich.  

"Und...?" Sie zuckte die Schultern, schürzte die Lippen und lachte mich dann laut heraus an. Wie ein Schlag traf mich ihr offenes warmes Lachen mitten ins Gesicht. Wie hatte ich das vermißt in den letzten Monaten. Aber... Wahrscheinlich lächelte ich zurück. Wahrscheinlich war...  

Da zersprang eine Fensterscheibe, und ein Regen von kleinen glitzernden Scherben ging auf den Boden nieder.  

"Sie kommen", sagte der Alte ganz ruhig.  

Das Telefon! Ich mußte jemanden anrufen, die Polizei... Der Wahnsinn, der hier Fuß gefaßt hatte, mußte bekämpft wer den, notfalls mit Waffengewalt... Die Leitung war tot. Natürlich. Was für ein Film war das hier, was für eine versponnene krankhafte Geschichte? Alles war so verschwommen, unklar, und keiner schien zu wissen, worum es ging.  

"Weißt du, worum es hier geht?" fragte ich den Alten, der schon durch das zerschossene Fenster schaute.  

"Nun, ich nehme an, sie wollen den Regen zu Aufhören bringen, irgendeine Art Ritual - sieh nur! Jetzt tanzen sie!"  

Und wirklich: In einer langen Reihe bewegten sie sich durch den Garten, einer geheimen Schrittfolge gehorchend umkreisten sie das Haus, schlossen den Kreis, ihre Oberkörper wippten zu einem verborgenen Rhythmus, ihre Hände klatschten lautlos einen stummen Takt - nur ihr monotoner Gesang drang von allen Seiten zu uns herein, immer lauter, bis er den Raum ganz erfüllt hatte. Ich glaubte den Leiter des nächtlichen Chors zu erkennen, die zwanzig begossenen Sänger, und auch eine kleine hinkende Gestalt war wohl irgendwo darunter, funkelte aus Kohlenaugen böse herüber.  

"Den Regen zum Aufhören bringen? Sind die denn völlig übergeschnappt?" Helena war aufgesprungen. Er sah mich an, um seinen Mund spielte wieder dieses Lächeln, das mir einmal als mitleidig erschienen war.  

"Ja, so kannst du es sehen - sie sehen es anders. In ihrer Welt..."  

Genug!  

"Genug! Hör endlich auf, mir etwas von Wirklichkeiten zu erzählen! Von verschiedenen Universen, die sich um verschiedene Achsen drehen, oder von Ritualen, die blind machen für alles andere! Ich habe genug davon!" Er sah mich erstaunt an, als spräche ich in einer ihm unbekannten Sprache.  

"Die sind doch einfach irr dort draußen! Die können doch nicht so ein Theater machen, da durch den Garten trampeln, Scheiben einwerfen und was weiß ich, was noch kommt, nur weil sie überzeugt sind, irgend etwas erkannt zu haben, nur weil so eine schwachsinnige Idee in ihren verregneten Hirnen aufgetaucht ist und sie sie nicht mehr loslassen können! Die können doch nicht alles für wahr halten, was ihnen einfällt!"  

Die Splitter des Fensters knirschten bedenklich unter meinen Schuhen, ein Gefühl, als ob der Boden unter mir nachgäbe. Ich sah hinunter, schaute auf Helena, die etwas zerknirscht in der Ecke saß - was anderes ausprobiert? andere Männer? Von mir aus. Aber hast du nicht irgend etwas vergessen? Irgendwas... frag mich nicht, was, aber irgend etwas hast du vergessen, irgend etwas geht nicht auf in deiner Rechnung - aber was? -, sah auf die geborstene Scheibe, schließlich auf den Alten. Ich sah es schon in seinen Augen...  

"Du meinst, die können das? Du meinst, die tun nie was anderes?" Er löchelte.  

"Scheiße."  

Jetzt hatte ich genug von der Geschichte, endgültig genug. Egal, was passieren würde - ich mußte hier heraus! Vielleicht konnte man ja mit ihnen reden... wenigstens herausfinden, was sie eigentlich wollten... Irgendwo klirrte wieder eine Scheibe.  

"Ich... ich gehe hinaus. Wir können doch nicht einfach warten, bis sie uns holen, oder?!" Die beiden sahen mich erstaunt an.  

"Da hinaus?" Sie waren nähergekommen, aber keiner machte Anstalten, mich aufzuhalten, als ich zur Türe ging. Sah ich mich noch einmal um? Wenn ja, hätte ich wohl viel darum gegeben, die Blicke zu verstehen, mit denen sie mir nachsahen, besonders den letzten Blick aus diesen unheimlich schönen sizilianischen Augen, die den meinen folgten, bis ich die Tür hinter mir zuzog, besonders diesen Blick zu verstehen, das wäre mir sehr viel wert gewesen.  

Die Luft im Gang war feucht und kalt, und ein klammer Wind zog im Halbdunkel an mir vorbei, kroch sofort in meinen Rücken. Der Boden vor dem Gangfenster glänzte unter einem Teppich von Scherben.  

Dann war ich bei der Tür. Ich hielt die Schnalle einen Augenblick lang fest - "so kalt, daß es beinahe weh tut", dachte ich vielleicht -, atmete noch einmal tief durch, drückte sie hinunter und äffnete langsam die Tür.  

Die Luft draußen war kälter. Ich brauchte einen Augenblick, um mich an das Licht zu gewöhnen, um mich aus der sicheren Dunkelgeit hinter mir zu lösen. Da waren sie. Hand in Hand bildeten sie eine Reihe, Männer, Frauen, alte, junge, und bewegten sich mit ihren seltsamen steifen Schritten weiter, Schritt für Schritt, Ruck für Ruck... Der Schlamm, fuhr es mir durch den Kopf, sie bleiben ständig im Schlamm stecken... Dann sahen sie mich.  

Ich zog die Tür rasch hinter mir zu. Wohin...? Der dicke Bärtige dort sah unverwandt zu mir her, sein grauer Bart klebte in kurzen Wellen an seinem Hals... er hob die Hand. Los jetzt! Sie konnten doch nicht alle irr geworden sein... man mußte doch mit ihnen reden können... ich stieß mich ab und ging los - möglichst fest, entschieden, denk daran: sie sehen dich alle an - der Bärtige wirkte irgendwie so, als wüßte er Bescheid.  

Als ich die Hälfte des Wegs geschafft hatte, löste sich einer aus der Kette, ein riesiger klobiger Mann - einer der wenigen, die keinen Hut trugen. Seine wäßrigen blutunterlaufenen Augen waren weit aufgerissen, seine geröteten Lider, sein großes bleiches Gesicht schien durch den Regen zu schweben... ich zögerte, kurz - er machte irgendwie nicht den Eindruck, als wollte er reden -, dann rannte ich los.  

Er muß mich an der Schulter erwischt haben, denn statt in ein paar Schritten die Lücke erreicht zu haben, die er in der Menschenmauer hinterlassen hatte, drehte ich mich schlagartig herum, so daß ich beinahe hinfiel. Ich sah gerade noch, wie zwei schwarze Gestalten zur Haustür sprangen, am Türknopf rissen, dann packte mich jemand von hinten. Ich riß mich los, und so weiter, rannte auf das Haus zu, schlug einen Haken zu den Büschen hinüber und lief der Hauswand entlang - um die Ecke: frei! - in den hinteren Garten... genau zwei stämmigen Männern in die Arme. Ihre fliehenden Stirnen... ihre wild starrenden Augen, die zusammengekniffenen Lippen... Da! Links sah ich Grün, da stand keiner! Ich versuchte den beiden noch auszuweichen, stolperte, prallte in die Schulter des einen... noch ein Haken!... rutschte im Schlamm aus, fiel, und hörte im Fallen barsche Rufe hinter mir. Ich fing den Sturz mnit den Händen ab... weiter!... da traf mich von rechts ein Schlag. Mein Arm sackte weg, ich schlug mit der Schulter auf den Boden, dann mit dem Gesicht. Feuchte Erde folgte auf den harten Schlag. Auf! Weiter!! Ich drehte mich ruckartig auf dem Boden, sprang auf - tatsächlich! Damit hatten sie nicht gerechnet! - und sah wieder die Hausmauer vor mir. Links! Um die Bank... die Ecke... und auf die Wiese hinaus, zu den Bäumen hinüber... Ein Gesicht tauchte aus dem verschwommenen Nebel neben mir auf, und ich schlug einfach hinein. Ich spürte, wie etwas Hartes gegen meinen Knöchel prallte, und ich spürte, wie es knirschend nachgab...  

Und so weiter.  

Mein Arm schmerzte, meine Beine brannten. In meiner Brust drückte etwas mit Gewalt nach außen, preßte mit solcher Kraft gegen meine Kehle, daß mir die Luft wegbleib. Den letzten Schlag hette ich gar nicht mehr pariert, war einfach willenlos in die Richtung gestolpert, in die er mich gelenkt hatte; war noch einem Baum ausgewichen. Den nächsten dünnen Stamm hatte ich dann mit dem Arm erwischt und mich daran gefangen. Ich klammerte mich an ihm fest... nur eine Sekunde verschnaufen... meine Knie wollten wegknicken, ständig mußte ich mich wieder hochziehen. Die bunten Kreise wollten meine Augen zudecken. Meine Hand war wie aus Stein.  

Irgendwo in meinem Rücken, so weit hinter mir, hörte ich ihre aufgeregten Stimmen näherkommen... dann schienen sie stehenzubleiben. Blut, dachte ich... jetzt wollen sie Blut sehen.  

Aber sie kamen nicht.  

Alles haben sie gesehen, alles... und noch mehr: auch noch das, was sie sehen wollten, was gar nicht da war... ihr ganzes verregnetes Leben, ihre Nebel, ihre Schleier, und darunter, ganz nah, ganz an ihre Brust gedrückt, den glänzenden Stein, das einzige, das sie spürten, das sie scharf sahen... und das nur sie sahen, kein anderer - denn da waren die Nebel dazwischen... und jetzt wollten sie Blut sehen. Dicke rote Tropfen, die auf den feuchten Blättern glänzten, die an nassen Grashalmen langsam herunterrannten, auf den schlammigen Boden zu... Glaubten sie denn, daß sie einfach wahllos weiterblättern konnten in dem Buch, daß sie einfach die Seite, den Satz suchen konnten, den sie wollten, und dabei alles andere überlesen... glaubten sie denn, daß sie jedes Wort so lesen konnten, wie es ihnen gerade einfiel?  

Aber wozu die Mühe? Wozu sollte ich denn verstehen, was sie wollten... es war doch so klar.  

Mühsam drehte ich mich um, versuchte mich aufrecht zu halten, doch meine Knie ließen mich wieder im Stich, und ich torkelte zurück gegen den Stamm. Ich spürte noch, wie er nachgab, wie er sich unter meinem Gewicht bog.  

Das waren sie also. Durchnäßte, blaße Gestalten, die ihre dreckigen Schuhe in den Schlamm stemmten,die Köpfe gesenkt feindlich auf mich herstarrten. Irgend jemand hatte schon wieder zu singen begonnen. Dieses Summen... diese Stimmen... da geschah es.  

Ein plötzlicher Schmerz stach in meine Augen, und noch bevor ich wußte, was es war, wurde alles schwarz. Ich preßte die Augen zu. Gleichzeitig hörte ich Schreie, die von überall her auf mich losbrachen... Ich nahm meinen letzten Atem zusammen und schrie ihnen entgegen, schrie, so laut ich konnte..."Seid ihr denn alle verrückt geworden?!" oder so ähnlich, "... ja glaubt ihr denn..." Dann spürte ich die Wärme. Wie ein Lufthauch strich sie über mein Gesicht, deckte es zu, blieb daran hängen wie... wie... wie ein Sonnenstrahl, der hinter dunklen Wolken herausbricht! Schlagartig war es still, und ich hörte nur mehr meinen eigenen keuchenden Atem. Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch der Schmerz war zu stark; sobald ich die Lider nur ein wenig hob, stach er brennend in die Höhlen. Ein trockener Wind spielte auf meiner Stirn, stieß an meine Wangen; ein trockener Wind...? Der Regen! Der Regen hatte aufgehört! Nur mehr vereinzelte Tropfen, die von den Blättern fallen mochten, hier ein Glucksen, dort ein Knistern... verdammt! Ich mußte sehen!  

Ich riß die Augen auf, starrte durch die sofort hochschießenden Tränen, doch unwillkürlich zuckten sie wieder zu. Er war noch zu stark. Aber ich hatte sie trotzdem gesehen.  

Ich hatte die blassen Gesichter gesehen, wie Pilze über den grünen Rasen verteilt, hatte die auf dem Boden, im Schlamm knieenden Gestalten gesehen, die mir ihre erhobenen Arme entgegenstreckten, hatte, kurz nur, die Angst, die Ehrfurcht in ihren Augen gesehen... und - ich glaube es zumindest, denn hinter meinen geschlossenen Lidern stand das Bild noch lange, wenn auch blaß - und ich hatte drüben, am andern Ende der Wiese, dort, wo die Zufahrt am Schlachthaus in die Straße mündete, einen alten Mann gesehen, der sich mit seltsam hüpfenden Schritten entfernte, bei jedem Schritt das Knie ruckartig hochriß, als tanze er...  

Da fingen sie wieder zu singen an. Es mochte die selbe Melodie sein wie vorher, ein dunkler Kanon, der klein begann und immer breiter wurde, hier und dort helle Lichtblitze auf seiner Oberfläche: die Stimmen der Frauen. Das neue Gebet, fiel mir ein, und ich weiß nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin, sie beten ihr neues Gebet... Langsam begann ich die Worte zu verstehen, die scheinbar immer wiederkamen, von anderen Stimmen in anderen Lagen aufgenommen - "verrückt..." - und zurückgegeben, zurückgeworfen in den gleichmäßigen Strom - "seid ihr..." - ein auf- und abschwellender Gesang von feierlicher Getragenheit - "...worden..." - aus denen spitze Schreie heraussprangen: "Ja seid ihr denn alle verrückt geworden", brüllte der Männerchor zu den Bäumen, über die Wiese, zu den leeren Häusern hinüber - "Ja, glaubt ihr denn...", antworteten die Frauen, staccato wiederholt: "Glaubt ihr denn? Glaubt ihr denn!? Ja, glaubt ihr denn...?"  

Dann ließ der Druck in meinem Kopf nach und ich öffnete die Augen.  

"Was hast du denn?" fragte meine Frau. Sie stand, die Hüften an den Küchentisch gelehnt mit verschränkten Armen da und lächelte mich unsicher an.  

Unsicher. Sie lächelte mich unsicher an.  

"Ach, es ist nichts... nichts."  

Ich sah dem Mann nach, der draußen auf der Straße vorbeiging. Mir war, als ob er eben noch hereingesehen hätte, als ob er stehengeblieben war und zu unseren Fenstern heraufgestarrt hätte. Aber ich kann mich täuschen. Vor mir auf dem Tisch war eine Wasserpfütze, darin ein umgekipptes Glas.  

"Warte, ich hole ein Tuch." Sie drehte sich um und ging zum Spülbecken. Sie warf einen Blick aus dem Fenster.  

"Sieht so aus, als ob der Sommer zu Ende geht", sagte sie im Weitergehen, wohl mehr zu sich als zu mir.  

"Ich glaube, es gibt bald Regen."  

"Mag sein."  

Draußen rollte ein Donner... 
  


Ende


 
 
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