Wie der Wind aus tiefen Gräben
. . .
Hier sitze ich also: gebückt
an dem großen Tisch, der zehn Gästen Platz böte, allein.
Die nackten Stuhllehnen mir gegenüber sehen sich über die polierte
Fläche hinweg an, und ich blicke nur auf, wenn sie einander Satzfetzen,
Lachen, verhalltes Gläserklingen zuschweigen. Fleißig unermüdliche
Münder plappern, lachen, kauen, trinken, schmollen, grinsen, stehen
offen und klappen empört wieder zu, zeigen die Zähne, schmatzen,
singen stramm und weinselig, schreien wütend der Faust auf den Tisch
nach.
Stille, völlige Stille.
Wenn du jetzt hier wärst, lieber
Freund, könnten wir gemeinsam dem Leben lauschen, wie es die Stühle
erzählen, und wir würden andachtsvoll die Geschichten der Sitzflächen
hören, die bestimmt einiges erlebt haben.
Wir könnten, wir würden.
Doch du bist nicht hier, du hast
es vorgezogen, jetzt doch endlich deine Reise anzutreten, du hast sie lange
genug aufgeschoben. Ja, ja, ich weiß, du hast gesagt, man sollte
jeden Tag aufbrechen, dürfe nicht einfach sitzenbleiben, wo man ist,
weil sonst die Geier zu kreisen aufhören und sich niederlassen würden,
und wenn sie einmal säßen, entkäme man ihnen nur mehr schwer
und unter großen Opfern. Darum auch hinderst du die Menschen daran,
auf dir sitzenzubleiben, wie du es nennst, es sich auf dir gemütlich
zu machen. Du kannst es nicht ertragen, daß man sich mit dir einrichtet,
dich als gegeben hinnimmt, du verlangst, daß man dir zugesteht, jeden
Tag, jede Minute ein anderer zu sein. Heute so, morgen anders, heute ein
Tänzer, morgen ein Fels, heute laut, morgen stumm, nie bleibst du
wer du bist. Erzählst du mir, daß du die Menschen nicht erträgst,
ihr Anblick, der Gedanke allein daran, sie zur Kenntnis nehmen zu müssen,
dir angst macht, so bin ich sicher, daß du bald von der Liebe schwärmen
wirst oder von einem Lächeln, das nicht dir gegolten hat, sondern
einem abwesenden Liebhaber, gedankenverloren einer abbrennenden Kerze zugelächelt.
Du provozierst, forderst Widerspruch,
der dir dann als Bestätigung dient, stiftest Unruhe.
Doch, unter uns, du forderst zuviel.
Nichts ist den Menschen wichtiger als ihre Ruhe, als der gesicherte Stand,
auf dem sie kurz ein Leben lang verweilen können, sich selbst und
die anderen vermeintlich fest im Griff.
Und ich kann sie verstehen. Es braucht
Mut, viel Mut, im Angesicht einer sich rasend schnell drehenden, sich von
Augenblick zu Augenblick ändernden Welt, mitten in einem entfesselten,
uferlosen Tanz der Möglichkeiten sich mitzudrehen, mitzuwirbeln, sich
nicht hinzusetzen und "genug" zu rufen; Mut, das Unsichtbare bei der Hand
zu nehmen, es gar führen zu wollen; Mut und einen klaren Kopf, um
auf unsicherem Grund aufrecht gehen zu können.
Doch von wem willst du diesen Mut
fordern und von wem das Feuer, das der Tänzer braucht, um nicht zu
stürzen und sich zu verbrennen?
Ich bestelle nun doch eine Flasche
Wein, roten, wie immer. Die will ich auf dich trinken, weil wir früher
zusammen getrunken haben, hier, an diesem Tisch und an anderen, er soll
seine beste Flasche aus dem Keller holen, sage ich dem Wirt, und dienstbeflissen
verschwindet er durch eine Tür.
Ja früher, da sind wir hier
gesessen, bis die Nacht lang und die Gedanken noch länger wurden,
da haben wir in einem Atemzug ein Bild der Welt entworfen, wie man komplizierte
Kristalle entwerfen könnte, unverständlich in ihrer Klarheit,
furchterregend in ihrer Schönheit, nur um es im nächsten wieder
zu vernichten, aufzulösen und zu widerlegen, Architekten, die mit
Hingabe der Überflüssigkeit ihrer gewaltigsten Bauten huldigen. Und
ich erinnere mich, daß du oft einen Augenblick zögertest, bevor
du mit einem Grinsen das Gebäude in Trümmer gehen ließest;
einen Augenblick, in dem du, glaube ich, der Möglichkeit nachgetrauert
hast, daß die Welt sich wirklich in einem Bild fangen ließe,
ohne sich ständig zu entziehen.
Früher, als die Welt noch ganz
war und keinen Riß hatte, der häßlich und schwarz in ihr
klaffte sagtest du. Ich habe dich gefragt "Wo ist denn dieser Riß,
zeig ihn mir. Ich kann nichts sehen, was einem Riß gliche, alles
ist wie immer." Doch du hast mich nur angesehen, stumm und lange, und dann
gemeint, daß man ihn nicht sehen könne, weil er mitten durchs
Herz ginge. "Also ist das Herz gespalten, nicht die Welt", habe ich beinahe
triumphierend hingeworfen. Und du: Nur mit dem Herzen kann man die Welt,
kann man irgend etwas erfassen, und wenn das Herz zerrissen ist, ist es
auch die Welt.
Da habe ich geahnt, daß es
nicht mehr lange dauern würde, bis du wieder auf die Reise gehen würdest.
Wo bleibt der Wein?
Jetzt, da du fort bist, sehe ich
ihn, den Riß, von dem du sprachst. Breit und gefährlich liegt
er da, unergründbar, bodenlos, und zieht jeden in seine Tiefe, der
unvorsichtig über seinen Rand hinuntersieht. Aber er spaltet nicht
das Herz, wie du meintest, er verläuft zwischen der Welt und den Menschen,
jedem einzelnen, und markiert dort die Grenze der Einsamkeit. Du sagst:
Wer den Riß in sich trägt, den frißt der Schmerz, den
läßt seine unergründliche schwarze Tiefe verstummen und
vereinsamen. Ich sage: Im Grunde ist ein jeder einsam, doch nur wer auf
seinen Wanderungen an den Graben gelangt, inmitten satter grüner Wiesen
unvermittelt in seinen aufgerissenen Rachen starrt, wird sich dessen bewußt
werden.
Genau betrachtet, ein kleiner Unterschied,
doch groß genug, daß wir uns nie über ihn haben einigen
können.
Jetzt kommt der Wirt aus dem Keller
zurück, seine etwas gebückte Gestalt scheint aus der Türöffnung
ins Helle herauszuwachsen, er setzt zum Riesenhaften an, überlegt
es sich aber doch noch einmal und bleibt gedrungen. Auf dem Arm trägt
er, behutsam, wie man kleine Kinder trägt, zwei Flaschen. Ob er weiß,
daß ich länger bleiben werde? Denn, ehrlich, ich wüßte
nichts anderes zu tun, als hier zu sitzen, wo ich so oft gesessen bin,
in letzter Zeit oft allein. Da hast du schon kaum mehr mit mir gesprochen,
höchstens noch hie und da eine Nichtigkeit oder einen halb traurigen
Scherz über die allgemeine Unmöglichkeit, einander zu verstehen.
Doch ich sah unsere Freundschaft nicht gefährdet. Das Gefühl,
daß wir durch ein unbestimmbares Schicksal aneinander gebunden sind,
zwei Händler mit der gleichen Ware, die sich nur durch ihren Beruf
schon immer wieder begegnen müssen, beruhigte mich jedesmal, wenn
das Schweigen zwischen uns so stark wurde, daß wir uns seiner bewußt
wurden.
Draußen, ich höre es
am Klopfen an den Fenstern, beginnt es zu regnen. Oder sind es die Träume
der letzten Nacht, die, müde davon, ihrer Erfüllung zu harren
und vergessen zu werden, mit einem Seufzen die Flügel falten, abstürzen
und auf dem Pflaster zerspritzen? Vielleicht sollte ich nach einem Regen
besser darauf achten, wohin ich meine Füße setze, könnte
nicht noch ein Traum in den Pfützen stehen, der den Sturz unbeschadet
überstanden hat; sei es, daß er so groß war, daß
ihm die kleine Erde nichts anhaben konnte, sei es, daß er so tief
geflogen war?
Du siehst, ich bin dir ähnlich,
ähnlicher geworden, seit du fort bist, wenn uns auch schon früher,
wer uns traf, für einen halten konnte.
Nur in einem gleiche ich dir nicht,
und das war schon so, seit wir uns kennen. In den Augenblicken, da du,
manchmal ohne Anlaß, scheinbar! manchmal auf ein Wort, einen Musikfetzen
von irgendwo her, diesen seltsamen Blick bekamst, diesen tiefen glänzenden
Blick aus schwarzem Glas, da deine Traurigkeit aus dir hochstieg, wie die
nächtliche Flut die Kaimauer hochsteigt, da waren wir nicht mehr in
der selben Welt. Ich sehe dich, wie du dasitzt, hier, auf dem Stuhl, auf
dem ich jetzt sitze, die Hände, die eben noch ein Universum zu greifen
versuchten, hier und dort Punkte in den Raum setzten, die, miteinander
verbunden, eine unheimliche Ordnung jenseits aller Wahrscheinlichkeit aufzeigten,
diese Hände liegen verwundet auf dem Tisch vor dir, dein Blick senkt
sich auf sie, langsam, schwer, und ein fremder Lichtstrahl fängt sich
in ihm, so scheint es, will ausbrechen, ein Lichtstrahl, der nicht von
der Lampe, sondern über Millionen von Jahren, aus der Zeit, da sein
Bewußtsein den letzten Affen allein in eine mörderische Welt
warf, irgendwie zu dir gedrungen ist und jetzt diesen eigenartigen schwarzen
Schimmer in deinen Augen unruhig flackern läßt.
Ich habe es nicht verstanden, verstehe
es heute noch nicht, doch wie gern hätte ich sie dir genommen, deine
Traurigkeit, wenn sie mir auch angst machte; gib sie mir, habe ich einmal
gesagt, gib sie mir, der ich sie nicht verstehe, dem Dummen, Unwissenden;
ich kann leicht tragen, was dich, der du tiefer verstehst, zu Boden drückt.
Du hast mich angesehen, wahrscheinlich wußtest du, daß ich
nicht im Ernst gesprochen hatte, nie hätte einlösen können.
was ich dir versprach, und, wer weiß, vielleicht hast du gerade dort
beschlossen, daß du wieder auf Reisen gehen würdest.
Der Mond zieht weiter, und die Ebbe
ruft die Flut ins Meer zurück. Nur ein dunkler Rand an der Mauer zeugt
noch vom Drängen der Nacht, während eine immer gleiche Sonne
den fremden Glanz aus deinen Augen vertreibt.
Und draußen fällt weiter
der Regen, dieser gottverdammte Regen, den sie bleiern nennen, als könnte
er jemanden erschlagen, mit lauter kleinen Hieben auslöschen, wer
ungeschützt, ohne daran zu denken, ins Freie geht. Aber der Regen
erschlägt niemanden, für mörderisches Blei braucht es schon
den Menschen, den Menschen und ein bißchen Feuer. Welche andere Verbindung
hätte so viel Elend und Zerstörung hervorbringen können
wie diese: Mensch und Feuer? Das wärmende Feuer, das Feuer des Scheiterhaufens,
das reinigende, das heilige Feuer mit seinen Priesterinnen, mit seinen
Inquisitoren?
Auch keusche Priesterinnen sind
Menschen, raunen einige der Stuhllehnen vor sich hin, sind Menschen sind
Frauen sind Menschen. Ob sie heimlich geboren haben? Den immer stärker
von ihrer Leidenschaft zeugenden Bauch unter weiten, wallenden Gewändern,
Priesterinnengewändern, versteckend, bis zum letzten Tag? Wem haben
sie sich anvertraut nach den bangen Wochen allein in dem klammen Tempel,
da sie das Herdfeuer hüteten und doch keinen Herd ihr eigen nennen
durften? In welches verschlossene vertraute Gesicht sprang der erste, der
neugeborene Schrei, als er sich aus hinterstem Winkel weiter Säulenhallen
aufmachte, zu suchen, was er nicht finden würde? Sind Menschen; sind
Menschen?
Noch ein Glas auf dich, mein Freund,
ich will es in einem Zug leeren, als wäre es das letzte.
Ich werde, denke ich, hier sitzenbleiben
und den Stühlen weiter zuhören, jetzt, da ich ihre Sprache verstehe.
Dieser müde alte Körper, dem sie meinen Namen gegeben haben,
will nicht mehr weiterspielen, will nicht mehr mitlaufen in dem grotesken
Rennen nach dem altbekannten Ziel, das niemand gern mit Namen nennt. Hier
an diesem Tisch, genauer, in dem Stück Raum zwischen mir und der weißen
Wand gegenüber, findet es nicht statt, hier ist, was zu finden ich
am wenigsten erwartet hätte: Frieden. Deine leeren Augen, dein blasses
Gesicht, aus dem jede Anspannung gewichen ist: Frieden. Ich sehe dich vor
mir, und mit einem Mal wird mir klar, daß es das war, was du gesucht
hast, wenn du aufbrachst, das, was du gefunden zu haben glaubtest, wenn
du wieder ruhig wurdest. Kein Rennen mehr, keine Angst, als erster am Ziel
zu sein, keine Flagge, die schon erhoben, doch nicht fallen will oder unversehens
einen abwinkt, der noch lange laufen wollte. Hast du ihn jetzt gefunden,
deinen Frieden, ja? Aufgebrochen, weggeflogen in vollkommener Ruhe, war
es das? Abgereist und liegengeblieben mit diesen verdammt leeren Augen,
diesem zuckersüßen Engelsgesicht, ja Engel, Engel in Kirchen
sehen so aus, wolltest du den Engeln nachreisen, endlich die wirklich große
Reise antreten, da hier kein Platz mehr für dich war?
Ja doch, ich werde noch eine Flasche
auf dich trinken, aber ich weiß nicht, ob ich dich bewundern soll
oder den Keim fürchten, den du in mir gepflanzt hast. Dein Gesicht
ist in mir, es hat den Platz eingenommen, an dem früher du warst,
eine helle wächserne Scheibe, auf schwarzen Grund gebettet, an den
Rändern verschwommen, doch zu den Augen hin, den wassergefüllten
Höhlen, furchtbar scharf geschnitten. So liegst du da, unbeweglicher
großer Reisender, den niemand festmachen durfte, unbeweglich, hörst
du, keine Reisen mehr, kein Aufbrechen, Ankommen mehr, vorbei Vogelflug
und Schlangengleiten. Du hast dich selbst kaltgestellt, überdrüssig,
ja, aber wessen?! wessen, sag es mir!, um dich selbst betrogen, dich selbst
Lügen gestraft. Logik, Konsistenz, hörst du, der Mensch darf
sich nicht so fatal widersprechen, sonst wird alles nichtig, geradezu lächerlich
nichtig. Nimm ihm die Verbindlichkeit seiner Person, das "So bin ich",
und lehre ihn statt dessen "So könnte ich sein oder so, doch ich weiß
es nicht", und alles, was er für wert hielt, erstarrt zu einer absurden
Fratze, einem häßlichen kalten Zerrbild vergebens geträumter
Träume. Was bleibt von dem willkürlichen Herumhüpfen, das
wir Leben nennen, dem bißchen Freude, dem bißchen Wärme,
dem bißchen scheinbaren Verstehens, den kleinen, brennend kalten
Blitzen, die uns für einen Augenblick durchfahren und in deren Schlaglicht
wir uns selbst sehen, uns selbst und alle Sterne und alle Zeiten und alle
Steine und alle Menschen aller Zeiten in einem einzigen großen Reigen,
der das Universum durchzieht? Was bleibt davon, wenn wir nicht sagen können,
daß wir es sind, die da hüpfen, brennen, lieben, sehen, hassen,
tanzen? Was? Ich werde es dir sagen: der schale Geschmack einer staubigen
Straße, in der du auf jemanden wartest, der dich schon lange vergessen
hat. Doch du kannst nicht einfach gehen, wie ein enttäuschter Liebhaber
irgendwann gehen würde, denn diese staubige verlassene Straße,
von der du nur ahnen kannst, daß irgendwo noch andere an ihr stehen,
ist dein Leben, und wohin du dich auch wendest, welche noch so verborgene
Abzweigung du auch nimmst, immer wieder siehst du die selbe Straße
vor dir, hinter dir, unter dir, immer werden deine Füße den
selben Staub treten; sie hat dich gefangen, und sie ist dir untertan, wie
das Laufrad den Hamster hält und ihm gleichzeitig dazu dient, ihn
seine Gefangenschaft vergessen zu lassen.
Das, mein Freund, ist die Welt der
Beliebigkeit, und könnte ich nur im geringsten hoffen, daß es
ihn gibt, würde ich jetzt "bei Gott" rufen, ich kenne sie gut, zu
gut, mein liebster Freund, um nicht zu wissen, wie wirklich sie ist, und
ich kenne dich zu gut, um nicht zu wissen, daß in ihr wirklich kein
Platz für dich ist.
Wein, viel Wein! Der Wirt soll noch
einmal in seinen Keller hinuntersteigen, der widerstrebenden Dunkelheit
der Tür seine eigene Unwahrscheinlichket abtrotzen, dir zuliebe.
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(unveröffentlicht)
Logik, Konstistenz, ich spreche
sie aus, überzeugt, und ich hoffe im selben Augenblick, daß
ich nicht gesehen habe, was gesehen zu haben ich doch sicher bin: daß
dein totes weißes Gesicht sich plötzlich bewegt, genauer, dein
Mund, dein toter schmaler weißer Mund sich zu einem spöttischen
Grinsen verzieht, deine ganze weiße Totenmaske in der Finsternis
noch ein bißchen heller strahlt.
Ja doch, du lächelst, und ich
weiß schon, daß alle Logik und Vernunft dich nicht gehalten
hätte, es war anderes Land, in dem deine Wurzeln lagen. Jetzt, ich
sagte es, sehe ich ihn, deinen abgrundriefen verdammten Riß, jetzt
ist er plötzlich da, mitten durch die Welt spaltet er sie in zwei
identische Hälften, er spaltet die Zeit, jeden Augenblick in Schichten,
die übereinander liegen, und nur wer genau hinsieht, so genau, wie
du es von dir und allen andern verlangt hast, sieht, daß unter der
Schicht, die ihm die oberste scheint, noch etwas liegt, das ihr aufs Haar
gleicht, meistens, manchmal aber auch grundverschieden davon ist. Ein lebendiges
Abziehbild der Oberfläche, doch aus einem andern Material, aus vielen
Materialien zusammengesetzt; wo die Außenhülle aus einem einzigen
gegossen erscheint, schillert die Schicht darunter in tausend verschiedenen
Farben und Strukturen, will die scheinbare Einheit Lügen strafen,
die das Auge auf den ersten Blick fängt, den Betrachter fürs
erste beruhigt.
Ich sehe ihn, ja, aber ich verstehe
ihn nicht, fühle ihn nicht, kein Schmerz will mir seinen grellen Totenschädel
zeigen, kein glühender Pfahl sich in meine Därme wühlen;
doch welche Erbschaft hast du mir hinterlassen: deinen tödlichen Riß,
der an deinem früheren Platz entspringt, dein totes weißes Gesicht,
das sich das Recht nimmt, die Dunkelheit zu beleuchten, oder, genauer besehen,
durch sein Leuchten die Dunkelheit ringsum erst schwarz macht.
Wenn nur der verdammte Regen nicht
wäre, man könnte sich vorstellen, nach draußen zu gehen,
die Augen zum Himmel zu heben und sich einfach gehen zu lassen, man könnte
es sich wenigstens wünschen. Man könnte, ich könnte, auch
wenn man es dann nicht täte.
Gut so. Das bist schon ein bißchen
du, der aus mir spricht, ich merke es wohl, glaube nicht, daß mir
das entginge. Das wortlose Sein, die Selbstverständlichkeit, mit der
du diesen Augenblick lebst, in dem du zum Himmel siehst, das Freisein von
Bedingungen, die dich an andere Augenblicke binden, das war, das ist, glaube
ich, der Zustand, vor dessen Erreichung du immer, einmal mehr, einmal weniger
knapp, gestanden bist, oder es doch hofftest. Und jetzt? Hast du ihn gefunden,
deinen Frieden, hat die leichte Freiheit dir die Brust weit gemacht. dich
fliegen gelehrt?
Hier sitze ich jetzt ohne dich,
nur mit dem Weinglas und diesem verschlissenen Block, und schreibe dir
nach, wohin?, in diesen seltsamen Raum, der so tödlich fremd ist und
doch so eigenartig vertraut, als kennte ich ihn schon immer. Was bloß
hat dich dorthin verschlagen in dieses steinerne kalte Meer, über
dem eine ewige Sonne strahlt? Kein Nebel legt seine gleichgültige
Hand über diese Ebene, kein Schleier hindert die Klarheit dieses Blicks.
In vollkommener Stille ziehen Gesichter ihre Bahnen über der erstarrten
Welt, Planeten in einem Universum, das, aus Langeweile, aus Altersschwäche,
aus eigenem festem Beschluß?, zu atmen aufgehört hat.
Dorthin muß ich dir jetzt
folgen, ich ahnte es bereits, als ich deinen Platz das erste Mal leer fand,
verwaist durch einen letzten glühend gefaßten Ratschluß
nach zu vielen durchfrorenen Stunden, da keiner kam, dich zu wärmen,
keine, dir den Boden unter die unsicher tastenden Füße zu legen.
Wenn dich etwas gehalten hätte, oder, wer weiß, vielleicht hättest
du damals noch zurückgefunden an deinen Platz, wenn, und dessen bin
ich mir jetzt im vernichtend stillen Trommelfeuer der Stühle beinahe
sicher, so wäre es das gewesen: die Selbstverständlichkeit, mit
der du deinen Kopf an eine Schulter gelegt hättest, ohne Angst, bald
abgeschüttelt zu werden, ohne Angst, dich deiner wortlosen Müdigkeit
nach vielen Reisen schämen zu müssen. Es war deine Natur! Hättest
du noch ausgehalten! Einen Tag nur, eine einzige winzige Stunde noch in
der Kälte, vielleicht hätte sie dir die Schulter gebracht, dir
den Ort gezeigt, an dem du hättest vergessen können, vergessen
darauf, jemand ganz Bestimmter sein zu müssen. Eine Minute länger
nur, kannst du sicher sein, daß nicht gerade sie dir die Wärme
gegeben hätte?
Doch die Stühle raunen anderes,
und sie, sie müssen es wissen. Sie schweigen sich von Einsamkeit zu
und von Herzen, die auch noch so liebend blind bleiben für den anderen
und immer und immer und immer in allem nur sich selbst erkennen können
und sonst nichts. Ihr eigenes Bild in dem, was sie zu lieben und zu verstehen
glauben, ihr Fühlen, das sie anderen unterschieben, und sich ihrer
Einfühlsamkeit rühmen. Nein, sie haben recht, die Stühle,
mehr als die Illusion, verstanden zu werden, wäre dir nicht beschieden
gewesen, und hättest du hundertmal hundert Jahre noch gewartet: bei
der Illusion wäre es geblieben. Denn auch dir war es, bei all den
unendlich vielen Fühlern, die du ausgestreckt hattest, um die Tiefen
der Menschen auszuloten (dort liegt die einzig mögliche Wahrheit,
hast du gesagt, auf dem Grund jenes Brunnens, in den die Menschen ihre
Empfindungen werfen und ihre Gefühle daraus schöpfen, dort, wo
sie mit ihren Worten nicht hinreichen), auch dir war es nicht gegeben,
in ihre Herzen zu sehen.
Wem wäre es, greinen die Sitzflächen,
die ihre Aufmerksamkeit auf ganz andere geheimnisvolle Tiefen lenken, wem
wäre es gegeben? Und sie haben wieder recht. Wenn wir zu erfühlen
glauben, was einen andern bewegt, sehen wir mehr als das, was wir in uns
selbst vermuten, was wir an seiner Stelle fühlen würden?
Laß gut sein, will der Wein
mir flüstern, hinter dem der Wirt breit aufleuchtet, laß gut
sein, denn es wird nicht besser. Er mag nachfüllen, doch was ist,
kannst du nicht ändern, kichert der Wein, nur was versteht er schon
davon? Es stimmt zwar, was er sagt, wie schön wäre es, sich einfach
gehen zu lassen, dorthin, wo er die Wege pflastert, schön wäre
es, die Segel aus dem Wind zu nehmen, den Kahn beizudrehen; Seilzeug und
Takelage haben rauhe Wetter hinter sich, stemmen sich nur mehr steif und
brüchig gegen immer neue Böen, das Blau eines unbarmherzigen
Himmels schreit die Stille an, Sonne und Salz brennen die Haut aus, bis
sie ein einziger Schmerz ist, der keine Berührung erträgt.
Gewiß, all die Jahr zu widerstehen,
immer sorgsam sich selbst treu sein, zehrt einen aus. Die Suche nach etwas,
das man nicht kennt, ja von dem man nicht einmal weiß, ob es existiert,
kostet Kräfte. Kräfte, die zu besitzen man nicht sicher ist,
werden sie reichen? Und wenn sie zur Erreichung des unbestimmten Zieles
genügen, wird es wirklich das Ziel sein, das man anstrebte? Werden
sich neue auftun, wird man geirrt haben? die Kraft haben, die Suche von
neuem zu beginnen? Oh, du sprichst gut, Wein, verlockend sind deine Tröstungen!
Das Schiff beidrehen, rechtzeitig dem heißen Wind entrinnen, der
mich treibt und trieb, seit ich ein Kind war, mich in den nächstbesten
Hafen retten, die Segel streichen, Anker werfen, endlich Ruhe finden, Ruhe
um jeden Preis, meine paar Jahre einem kleinen, dafür sicheren Glück
widmen, rätst du dazu?
Du rätst gut, und gerne würde
ich deinem Rat folgen, zu gerne. Wer wollte nicht die Menschen beneiden,
die friedvoll in ihren sicheren Gewässern dümpeln, wer nicht
ihnen nacheifern wollen, wenn sie alle Kraft darauf verwenden, nicht auch
nur die Nasenspitze aus dem festen Gemäuer zu stecken, der Wind, der
böse, könnte sie ihnen abreißen, wer nicht ihren übermenschlichen
Willen bewundern, mit dem sie tun, was sie am besten können: nichts?
Ich beneide, ich bewundere, und
doch: Meine Segel brauchen den Wind, sie müssen sein unruhiges Drängen
spüren, ich muß treiben, wohin er mich treibt, ich muß
ihn lenken, denn er bläst von dorther, wo ich hinwill: aus mir selbst,
aus dem Zentrum jenes kleinen unbedeutenden Universums am Rande dieses
Wirtshaustisches, aus der Mitte dieses unbekannt wohlvertrauten Dinges,
das ich bin.
Und du, Freund, wolltest du mich
nicht begleiten dorthin, wollten wir nicht gemeinsam die Räume dorthin
durchmessen, uns gegenüber und zur Seite sitzend, gehend, träumend?
Doch vielleicht glaube ich das nur, vielleicht habe ich nicht gesehen,
wo du warst, was du wolltest: Sicher, einen wie dich kennt man nicht, man
kann ihn zur Kenntnis nehmen, ihn bewundern oder hassen, er bleibt immer
wie er ist, ein Bild, das sich nicht ändert, fest in seinen Rahmen
gefügt.
Doch was soll's! Du bist
weg, du liegst da, und ich weiß, weiß, da zum Ahnen mir der
Glaube fehlt, wie du gekämpft hast, was du gelitten hast, bis du
letztlich gegangen bist. Denn das aufzugeben, was er bist, ist mehr, als
dem Menschen zuzumuten ist, aber du, du wolltest ja kein Mensch sein. Ich
weiß, wie sehr du im Grund bleiben wolltest, daß dir nichts
ferner lag, als das Land zu verlassen, in dem du, wenn du es auch gern
geleugnet hättest, heimisch geworden warst. Immer auf dem Sprung,
immer bereit, woanders hin aufzubrechen, hast du doch zu sehr an dem gehangen,
was du hier zu haben glaubtest, zu sehr, um noch zu wissen, wohin du hättest
gehen sollen.
Hast du geglaubt, die Jahre würden
spurlos an dir vorübergehen, all die Jahre, da du hier warst, all
die Jahre, die du gefüllt hast mit dir, all die Dinge, die du gegeben
und genommen hast? Es konnte nicht sein, und ich glaube, du hast es gewußt.
Wenn du geträumt hast, mußt du gewußt haben, daß
es ein Traum war, und wenn du ihn dann als deine Wirklichkeit ausgabst,
mußt du geahnt haben, daß der Traum zu alt war, um dich nicht
zu betrügen. Dein alter Traum von der Freiheit, wie gern hast du ihn,
vom ersten Tag an, den Ketten geopfert. Und in Ketten noch hast du dich
freier gefühlt als je zuvor, hast es geliebt, dich an ihnen zu reiben,
denn sie waren der Teil deines Lebens hier, den du immer als erstes spürtest,
wenn du unsicher wurdest, wenn du, einen Augenblick nur, das Gefühl
hattest, es entfliehe dir. Dieses, dein Leben hier, das dir mehr bedeutet
haben muß, als ich ermessen kann.
Ob du mich wohl gehaßt hast
am Ende? Ich weiß nicht, ob du dessen fähig warst, doch wenn
du es getan hast, kann ich dich verstehen. Von allem Anfang war ich es,
der dir den Boden unter den Füßen unsicher machte. Wenn du träumtest,
rief ich dich wach und zeigte dir, wo deine Ketten dich ins Fleisch schnitten.
Wenn du dich, zufrieden, ich weiß es! zufrieden und glücklich,
an einem ruhigen Ort niedergelassen hattest, hieß ich dich fliegen.
Über all die Jahre hast du in mir deinen besten Freund gesehen, hast mit
mir getrunken und gewacht, wenn ich es wollte, hast mit mir geweint, um
gleich darauf dein unendlich befreiendes Lachen zu lachen. Und ich habe
mit dir gelacht, habe deine unbändige Freude, die keines Grundes bedurfte,
zu der meinen machen wollen, ohne sie zu verstehen, ohne sie zu spüren.
Und wenn ich jetzt, da du mich nicht mehr hörst, ehrlich bin, muß
ich dir sagen, daß ich dich beneidet habe. Oh, nicht um das, was
du hattest, denn du hattest nichts außer dich selbst, hattest keine
Sicherheit, mit der du dich über deine Zweifel hättest weglügen
können. Jedes kleinste Wanken in dem, was für dich wichtig war,
jedes unbedeutende Flackern des Lichts, nach dessen Schein du dich recktest,
war für dich, soll ich ewig sagen? Den Augenblick, den du gerade durchlebtest,
hast du immer gelebt, als wär er von nun an der einzige, als würde
alles, was in diesem Augenblick wirklich war, für immer so bestehen
bleiben. Was man "Weitblick" nennt oder "Geduld", du hast es nicht gekannt,
Änderungen hast du weder vorhergesehen noch zu erreichen gesucht. Welch
Wahnsinn! Du hast ein Leben aus lauter Ewigkeiten gelebt, jede Sekunde
weitete sich für dich bis ins Unendliche aus, blieb bestehen, und
mit jeder neuen Sekunde kam eine neue Ewigkeit dazu. Ob du gewußt
hast, welch aberwitziges, gigantisches Universum in dir war?
Wenn ich dich beneidet habe, so
auch darum: Um die Größe, die du in der Beschränkung auf
den allerkleinsten Teil, auf einen Augenblick hattest.
Ja, ich habe dich beneidet um die
Freiheit, die du, ohne es zu wissen, ohne sie suchen zu müssen, hattest.
Wer sie sucht, hat sie lange schon verloren, und wer sie zu besitzen glaubt,
ist nichts als der geschlagene Knecht seiner eigenen befriedigten Wünsche.
Was für eine Rolle spielt es da, daß du nur in mir bestanden
hast, daß der Wirt, wenn er gefragt würde, schwören könnte,
mich immer nur allein trinken gesehen zu haben, was weiß er schon?
Was weiß irgend jemand davon, wie du mich, den Schwerfälligen,
Langsamen immer weiter getragen hast, seit wir Kinder waren, wo du doch
fliegen wolltest, sie haben nur mich gesehen. Und auch jetzt sehen sie
nur mich, unverändert.
Und ich werde ihnen weiter das Schauspiel
bieten, auf das sie ein Recht zu haben glauben, als hätten sie dafür
bezahlt, werde weiter so aussehen, als sei ich immer noch ich selbst, werde
bleiben, wo nichts mehr ist als eine Puppe, die mein Gesicht wie eine Maske
und meinen Namen als Panzer trägt., Da! Da ist er wieder, der Riß:
fremd steht die Welt mir auf seiner andern Seite gegenüber, eine ferne
Fassade hinter ziehendem Nebel. Menschen sehe ich und Häuser, Bewegung
und Stillstand, klar, doch unerreichbar fern, von ihnen trennt mich ein
schmaler, bodenloser Graben. Du konntest ihn überwinden, du, der ihn
zuerst gesehen hattest, konntest ihn leicht im Flug überqueren, ohne
daß du es bemerkt hättest, du, der ihn für tödlich
hieltest, hast ihm seinen Schrecken im Spiel genommen.
Der Regen hat aufgehört, ein
fahles graues Licht hängt von den Häuserwänden, und der
Wirt sieht mich erwartungsvoll von seinem Tresen her an. Ich werde versuchen,
ihn fürstlich zu bezahlen, und er wird nicht wissen, wem er sein Glück
zu verdanken hat. Gut so.
Wer weiß, was mich draußen
erwartet. Ein trockener Wind weht, und, seltsam, ich habe den Eindruck,
daß er irgendwie von unten her nach oben zieht, wie aus dem Innern
der Erde, was trägt er mit sich? Wenn ich im Leben wußte, daß
du nur in mir und nirgends sonst warst, so sehe ich dich jetzt unvermutet
draußen vorbeihuschen, wie ich aus dem Fenster sehe, um eine Ecke
verschwinden. Es geschieht, daß ich mit jemandem spreche, den ich
nicht kenne, und mit einem Mal, ich mag kurz woanders hin gesehen haben,
ein seltsamer Glanz in seinen Augen liegt, ein Glanz wie von sehr weit
her, der irgendwie an schwarzes Glas erinnert. Dann ist wieder verschwunden,
und ich frage mich wohin, und ich werde nicht aufhören, es mich zu
fragen, und vielleicht werde ich es eines Tages wissen, wenn es nicht mehr
wissen will.
Ob es wieder Regen geben wird?
Markus Wernig,
Nov. 1995
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